Von Ashley O’Brien
Hatte er auf mich gewartet? Oder wartete er auf irgendeinen Touristen, mit dem er sprechen konnte? Ich bin mir nicht sicher. Er saß auf einer alten Holzbank, und ich hatte ihn im Vorbeigehen beinahe übersehen. Der Mann war sehr alt, und für einen Moment hielt ich ihn für einen Angestellten der antiken römischen Therme, die ich in Bath, England besichtigte.
„Gefällt dir das römische Bad?“
„Es ist sehr schön“, antwortete ich höflich.
„Woher kommst du?“, fragte der alte Mann weiter. Sein warmes Lächeln faszinierte mich. Seine Zähne formten zwei perfekte Reihen und sein anziehendes Lächeln strahlte eine große Warmherzigkeit aus. „Und vielleicht möchtest du mir auch deinen Namen nennen?“, fügte er hinzu.
„Ashley“, antwortete ich. „Ich komme aus Cincinnati, Ohio.“ Im letzten Augenblick fiel mir ein, daß nicht alle Leute wissen, wo Cincinnati liegt, und so erklärte ich: „Ich komme aus den USA.“ Obwohl ich, seinem auffälligen Akzent nach zu urteilen, seine Heimat bereits vermutete, fragte ich ihn ebenfalls, wo er herkam.
„Oh, ich lebe hier in Bath.“ Er lächelte wieder.
Mir fiel auf, daß der alte Mann die Gewohnheit hatte, nach jeder Äußerung ein Lächeln folgen zu lassen. Er wollte auch von mir wissen, ob ich schon das Heilwasser probiert hätte.
„Nein. Ich bin gerade erst angekommen und hatte noch keine Gelegenheit, mir ein Glas Wasser zu holen“, entgegnete ich.
Er lachte und erklärte mir, daß er mich zu nichts überreden wollte. Das Wasser sei nicht sehr appetitlich. In der Antike habe man geglaubt, das Heilwasser wirke verjüngend und könne eine Person möglicherweise den Göttern näherbringen.
Dann sagte er etwas, was mir seltsam vorkam: „Aber darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich weiß, wo ich hingehen werde, wenn ich sterbe.“
Ich lächelte etwas nervös, reagierte aber nicht auf seinen Kommentar. Statt dessen fragte ich ihn eilends, wie lange er hier bereits wohne, um die Unterhaltung auf ein anderes Thema zu lenken.
„Ich lebe hier schon mein ganzes Leben lang“, lächelte er. „Es ist schon komisch, wenn ich darüber nachdenke, daß ich mein ganzes Leben in Bath verbracht habe und all die Jahre in die Kirche gegangen bin. Und doch habe ich Jesus Christus nie wirklich akzeptiert, bis vor kurzem.“
Es gab eine kurze Verlegenheitspause, während ich ihn ansah. Ich kannte mich in Sachen Kirche aus, denn ich bin damit aufgewachsen. Seit meiner Geburt habe ich mit meinen Eltern jede Woche einen Gottesdienst besucht. „Mein Vater ist Pastor“, erklärte ich dem alten Mann.
„Das ist sehr schön.“ Er lächelte noch immer. Es folgte eine kleine Pause, und es war ihm anzusehen, wie er über seinen nächsten Satz nachdachte. „Ich gehe seit 57 Jahren in die Kirche und kann mich noch daran erinnern, wie ich immer gehofft habe, daß ich gerettet sei. Ich hoffte ...“ Seine Stimme verlor sich für einen Moment und er blickte nach oben in die Luft, den Ort, zu dem man aufschaut, wenn man über die Vergangenheit nachdenkt.
Als er wieder anfing zu reden, war ich jedoch selbst mit meinen Gedanken ganz woanders. Ganz plötzlich übermannte mich ein überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit. Ich stand am Anfang meines Lebens als junge Erwachsene, während der alte Mann sich am Ende seines Lebens befand. All die Jahre war er in die Kirche gegangen und hatte eigentlich nie gewußt, was am Ende dabei herauskommen würde. Ich dagegen wuchs von klein auf mit dem Wissen auf, daß der Schöpfer des Universums einen Plan für die ganze Menschheit hat, der zu einem Ziel führt. Sein Ziel ist es, alle Menschen als seine Kinder in seine Familie zu bringen und ihnen ewiges Leben zu schenken. Zum ersten Mal wurde mir klar, welches Geschenk Gott seinen Kindern, die an ihn glauben, gegeben hat: das Geschenk der Zuversicht. Wenn wir so leben, wie er es von uns erwartet, dann muß nie ein Tag vergehen, an dem uns unklar ist, was passieren wird, wenn wir sterben.
Die Stimme des Besuchers unterbrach meine Gedanken, als er mir eine weitere Frage stellte. „Also, Ashley, weißt du, wo du hingehen wirst, oder hoffst du lediglich?“
Seine direkte Art überraschte mich. Aber was mich am meisten wunderte, war, daß er nicht von seinem Thema abzubringen war. Der alte Mann und ich hatten einige Gemeinsamkeiten. Wir glaubten beide an den Gott der Bibel und an Jesus Christus. Wir sind beide ein Leben lang jede Woche in die Kirche gegangen. Warum aber hatte es bei ihm 57 Jahre gedauert, um sich zu Gott zu bekehren? Ist er all die Jahre pflichtgemäß, aber zweifelnd in die Kirche gegangen?
Sein Schicksal berührte mich sehr, und ich verglich es mit meinem Leben. Seit meiner Kindheit ist mir der Inhalt der Bibel vertraut. Zusammen mit meinen Eltern praktiziere ich den Glauben, in dem ich aufgewachsen bin, und ich glaube an die Verheißungen unseres Schöpfers. Also worauf wartete ich noch? Was hielt mich zurück? Es schien so, als gäbe es immer so viele Sachen zu erledigen, so viele scheinbar wichtige Ereignisse, die unbeabsichtigt Priorität erlangen und mich davon abhalten, in meinem Leben einen wirklichen Schritt vorwärts zu machen. Zum ersten Mal erkannte ich ganz deutlich, was meine wirklichen Prioritäten im Leben sein sollten, und ich war dankbar für das Geschenk der tiefen Zuversicht.
Eines der Erfolgsprinzipien, die von Stephen Covey, einer international anerkannten Autorität auf dem Gebiet des Selbstmanagement, gelehrt werden, ist, „daß man nur etwas anfangen soll, wenn man den Blick schon von Beginn an auf das Ziel gerichtet hat“. Hier gab es einen Menschen, dessen Leben langsam zu Ende ging und der bedauerte, über ein halbes Jahrhundert gewartet zu haben, um ernsthaft darüber nachzudenken, was der Sinn des Lebens ist.
Der Gedanke an sich ist nicht neu, war aber neu für mich. Im Buch Prediger gibt es weise Ratschläge von König Salomo: „Und denke an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugendzeit, bevor die Tage des Übels kommen und die Jahre herannahen, von denen du sagen wirst: Ich habe kein Gefallen an ihnen! ... bevor die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerspringt und der Krug am Quell zerbricht und das Schöpfrad zersprungen in den Brunnen fällt“ (Prediger 12,1-2. 6; Elberfelder Bibel). Bei meinem Besuch in England traf ich nun ein lebendes Beispiel, auf das diese Schriftstelle zutraf. Hier war ein Mensch, der zugab, bis ans Ende seines Lebens gewartet zu haben, um etwas zu tun, was er zu Beginn seines Lebens hätte tun können.
„Ashley, laß mich mit dir ein Gebet sprechen“, bat er. Es war mir etwas peinlich und ich blickte flüchtig zu meinem Vater hinüber, der nur ein paar Schritte von mir entfernt auf den aufsteigenden Nebel der heißen Quellen sah, die einst von den Römern benutzt wurden.
Ohne seinen Kopf in eine der üblichen Gebetshaltungen zu senken, drehte der alte Mann seinen Kopf nach einer Seite und bat Gott, mich näher zu ihm zu bringen und mir dabei zu helfen, seine Bedeutung in meinem Leben zu begreifen. Er beendete das kurze Gebet mit einem „Amen“ und lächelte mir zu.
„Danke“, sagte ich und nahm die Besichtigung des Bades wieder auf.
An diesem Tag habe ich etwas gelernt. Jeder Mensch muß eine eigene Identität und ein Wertesystem entwickeln, für die es sich lohnt, Opfer zu bringen. Ohne Identität und ein Wertesystem wird man von jedem neuen Trend in eine neue Richtung getrieben, ohne je einen festen Halt zu finden. Irgendwann weiß man dann nicht mehr, welche Werte wirklich wichtig sind und welche Prioritäten im Leben zählen.
Ich erkannte auch, daß nach all den Jahren des Lernens die Zeit für mich gekommen war, einen Schritt nach vorne zu tun und den Glauben meiner Eltern zu meinem eigenen zu machen. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten.
Das Treffen in Bath hat mich lange beschäftigt. Noch heute frage ich mich, ob der Mann gerade auf mich warten sollte, oder ob er nur mit irgendeinem Menschen sprechen wollte.