Ist allein die Intelligenz erfolgsentscheidend? Die Forschung zeigt, daß viele junge Menschen aufgrund falscher Vorstellungen über ihre Intelligenz ihre Erfolgsaussichten im Leben zu pessimistisch einschätzen.
Hochschulaufnahmeprüfungen, Intelligenztests, Schulnoten, Schülerranglisten: Lehrer setzen viele Mittel ein, um Schüler nach ihrer Intelligenz einzustufen. Von der Grundschule über die Hochschule bis in die Arbeitswelt hinein werden junge Menschen immer wieder mit Intelligenzprüfungen traktiert. Diesem Mißstand liegt die Annahme zugrunde, daß Lebenserfolg den Intelligentesten vorbehalten ist, ein Gedanke, der Kindern tagaus, tagein in der Schule und zu Hause eingeschärft wird.
Stimmt diese Annahme aber? Ist denen, die mit großer natürlicher Intelligenz auf die Welt kommen, der Lebenserfolg gewiß, während andere zum Scheitern verurteilt sind? Die Gewohnheit der Pädagogik, die Schüler nach ihrer Intelligenz hierarchisch einzustufen, läßt viele den Schluß ziehen, das Leben sei ungerecht, da der Lebenserfolg von ererbten Anlagen bestimmt werde.
Viele Schüler, deren Noten unter dem Durchschnitt liegen, verlassen frühzeitig die Schule, weil ihnen Möglichkeiten, zum Wohl der Gesellschaft beizutragen, unerreichbar erscheinen. Der Ärger über die eigene Chancenlosigkeit führt manche in die Kriminalität oder in andere destruktive Aktivitäten. Weil sie meinen, sie seien zum Versagen bestimmt, versuchen sie, dies zu beweisen.
Manche intellektuell Begabten bilden sich ein, den Lebenserfolg schon in der Tasche zu haben. Sie sind stolze Besitzer einer nachgewiesen überlegenen Intelligenz und gehen fälschlicherweise davon aus, daß ihrem Erfolg nichts im Wege steht.
Wovon hängt der Erfolg ab?
Hängt der Erfolg im Leben in erster Linie von angeborener Intelligenz ab? Und was ist überhaupt Intelligenz? Wie wichtig ist sie im Leben?
Intelligenzforscher sind zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Es wurde einmal an vierjährigen Kindern ein Versuch durchgeführt. Es ging darum, festzustellen, ob der Lebenserfolg bzw. -mißerfolg dieser Kinder sich schon in diesem zarten Alter abzeichnete. Der leitende Psychologe führte jedes Kind in ein Zimmer und erklärte ihm: „Ich gebe dir hier einen Negerkuß. Wenn du willst, darfst du ihn jetzt schon essen. Wenn du aber wartest, bis ich wiederkomme, dann kannst du zwei essen.“
Dann ging er weg. Die einen Kinder aßen ihre Negerküsse sofort. Andere warteten ein paar Minuten, bis sie es nicht mehr aushielten. Dann gaben sie der Versuchung nach. Aber einige Kinder waren entschlossen, zu warten. Die Forscher beobachteten die Kinder durch versteckte Spiegel. Die einen machten die Augen zu oder senkten den Kopf, um der Versuchung zu widerstehen. Die anderen sangen Lieder oder spielten, und manche schliefen nach einer gewissen Zeit ein.
Als der Psychologe zurückkam, erhielten die erfolgreichen Kinder ihren zweiten, hart erkämpften Negerkuß. Man hielt die Ergebnisse fest, und in den folgenden Jahren beobachtete man den Fortschritt der Kinder in der Schule. Bis die Kinder das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatten, machten sich unterschiedliche Tendenzen deutlich bemerkbar. Die Kinder, die im Alter von vier Jahren der Versuchung widerstanden und den zweiten Negerkuß gewonnen hatten, waren sehr anpassungsfähig, sehr beliebt, zuversichtlich und verantwortungsbewußt. Die Kinder, die am schnellsten der Versuchung nachgegeben hatten, zeigten die stärkste Neigung dazu, eigenbrötlerisch, ungeduldig und starrköpfig zu werden.
Beim „Scholastic Aptitude Test“, einer Prüfung, die von vielen amerikanischen Universitäten benutzt wird, um die Hochschulreife von Studienbewerbern zu prüfen, waren die Ergebnisse der damals willensstarken Kinder im Durchschnitt um zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent besser als die der restlichen Jugendlichen.
Emotionale Intelligenz auch lebenswichtig
In jüngerer Zeit sprechen manche Forscher von einer „emotionalen Intelligenz“. Damit meinen sie unter anderem die Fähigkeit, eigene Gefühle zu verstehen und zu beherrschen, die Fähigkeit, sich in die Haut anderer Menschen zu versetzen, und die Fähigkeit, sich so zu verhalten, daß das eigene Lebensgefühl verbessert wird.
Vor kurzem veröffentlichte Dr. Daniel Goleman, Professor der Psychologie an der Universität Harvard, ein Buch mit dem Titel Emotional Intelligence [„Emotionale Intelligenz“]. Es war das Ergebnis einer zehnjährigen Beschäftigung mit der Rolle des Verstandes bei der Entstehung von Emotionen. Für ihn bedarf der Begriff „Intelligenz“ einer Neudefinition. Das Fazit, das er aus seiner Forschung zieht: Der Charakter, das heißt die Fähigkeit, durch die Bildung von Willenskraft, Selbstbeherrschung und Mitgefühl sich gegen Versuchungen immun zu machen, hat mehr Einfluß auf den Lebenserfolg als die Verstandeskraft des Gehirns, wie es in gewöhnlichen IQ-Tests und Einstufungsprüfungen gemessen wird.
Freilich ist es am besten, wenn sowohl die intellektuellen als auch die seelischen Fähigkeiten eines Menschen voll ausgeprägt sind. In der Fachwelt gilt es aber inzwischen als erwiesen, daß der Intelligenzquotient meistens nur zu zwanzig Prozent am Erfolg im Leben beteiligt ist.
Vor dem Hintergrund solcher Forschungsergebnisse wird die herkömmliche Annahme, die Intelligenz sei der maßgebliche Faktor zum Erfolg, in Frage gestellt. Der Erfolg oder Mißerfolg eines Menschen wird nach Meinung der Fachleute weniger durch seine intellektuellen Fähigkeiten bestimmt als bisher angenommen. Die Intelligenz scheint sogar eine ganz untergeordnete Rolle zu spielen.
Diejenigen, die bisher ziellos durchs Leben trieben, weil sie sich wegen schlechter akademischer Leistungen nichts zutrauten, können aus diesen Erkenntnissen neue Hoffnung schöpfen. Die Forschung zeigt, daß viele junge Menschen verzagen, weil sie ihre Fähigkeiten falsch beurteilen.
Fünf Arten von Intelligenz
Heute, gewappnet mit neuen Erfahrungswerten, fragen Psychologen, ob die Volksmeinung zur Intelligenz wirklich berechtigt ist. Freilich gehören für manche Fachleute alle Charakterzüge eines Menschen zu seiner Intelligenz. Für sie ist von vornherein die Frage bedeutungslos. Andere sprechen von fünf verschiedenen Arten von Intelligenz:
• Soziale Intelligenz: Das ist die Fähigkeit, die Handlungen, Gefühle und Beweggründe eines anderen Menschen zu verstehen. Diese Eigenschaft läßt sich mit herkömmlichen Intelligenztests nicht messen, dürfte aber die wichtigste Voraussetzung zum Lebenserfolg sein. Sie bedeutet, daß man mit anderen Menschen gut zusammenarbeiten kann. In vielen Fällen kann man dies schon an jungen Kindern beobachten, die ein Gespür für die Gefühle anderer zeigen, wenn zum Beispiel ein Kind fragt: „Warum ist Mutti heute so traurig?“
Menschen mit ausgeprägter sozialer Intelligenz entwickeln wertvolle Beziehungen zu anderen Menschen. Jemand aber, der zwar einen brillanten sachlichen Verstand hat, sich anderen gegenüber aber lieblos verhält, muß wegen seiner sozialen Ungeschicklichkeit mit vielen Konflikten und Enttäuschungen rechnen.
• Athletische Intelligenz: Eine hohe Koordination und ein feines Zusammenspiel zwischen dem Gehirn und anderen Körperteilen zeichnen Menschen aus, die nach heutigem Verständnis über eine hohe „athletische Intelligenz“ verfügen. Bis vor kurzem wurde die Rolle des Gehirns in der körperlichen Koordination unterschätzt. Inzwischen wird erkannt, daß die Virtuosität von Sportlern und Ballettänzerinnen nicht zuletzt auf der Fähigkeit ihres Gehirns beruht, die erforderliche Dauer, Reichweite und Kraft ihrer Körperbewegungen zu berechnen.
Menschen mit hoher athletischer Intelligenz können selbst kleinste Körperbewegungen mit großem Geschick ausführen. Das ist zum Beispiel bei Chirurgen, Schreibkräften und Musikern besonders nützlich, deren Fingerbewegungen äußerst genau und manchmal auch sehr schnell sein müssen.
• Sprachliche Intelligenz: Menschen, bei denen die sprachliche Intelligenz zum Zuge kommt, besitzen eine besondere Fähigkeit, sich in Wort und Schrift auszudrücken. Beim Lesen fassen sie neue Begriffe schnell auf. Es fällt ihnen leicht, ihre Gedanken zu formulieren, und viele von ihnen werden Schriftsteller, Journalisten, Lehrer oder Rechtsanwälte.
• Logische Intelligenz: Hier haben wir es mit der Fähigkeit zu tun, zu kombinieren und komplexe, abstrakte Aufgaben zu lösen. Eine ausgeprägte logische Intelligenz verspricht Erfolg in wissenschaftlichen Berufen wie Mathematik, Philosophie, Astronomie, Maschinenbau, Physik und Biologie.
• Räumliche Intelligenz: Menschen mit besonderer räumlicher Intelligenz haben eine ungewöhnliche Auffassungsgabe für Beziehungen zwischen Farben, Maßen und Perspektiven. Mit dieser Gabe geht meistens eine hohe Empfindsamkeit für Kunst und Musik einher. Berufe, die sich für Menschen mit hoher räumlicher Intelligenz anbieten, sind Malerei, Musik, Architektur und Konstruktion.
Die meisten Menschen haben alle diese Arten von Intelligenz, aber in verschiedener Ausprägung. Man muß viel Mühe aufwenden, um die eigenen Stärken festzustellen und auszubauen. Wenn man schlechte Noten in der Schule hat, heißt das noch lange nicht, daß man zu nichts fähig ist. Man kann sehr wohl verborgene Talente haben. Also soll man nicht gleich die Hoffnung verlieren.
Dem französischen Genetiker Albert Jacquard zufolge ist das Gehirn eines Menschen bei seiner Geburt nur zu dreißig Prozent verdrahtet. Die restliche Verdrahtung wird durch das Zusammenspiel mit der Umwelt besorgt, und zu diesem Zusammenspiel gehört das Lernen. Selbst bei relativ schlechten Erbanlagen, meint Jacquard, kann man es recht weit bringen, wenn nur der Wille zum Lernen und ein lernförderliches Klima vorhanden sind.
Berühmte Versager
Viele berühmte Menschen der Geschichte hatten schlechte Schulnoten und schnitten bei Intelligenztests bescheiden ab. Sie ließen sich aber dadurch nicht beirren. Durch Ausdauer und Zielstrebigkeit bauten sie ihre vorhandene Intelligenz aus. Hier zwei Beispiele, die stellvertretend für viele sind:
• Albert Einstein: Während seiner ersten neun Lebensjahre war Albert Einstein ein Stotterer. Wurden ihm Fragen gestellt, dauerte es lange, bis eine Antwort von ihm kam. Seine Eltern stuften ihn deswegen als geistig behindert ein. Seine Stärke war logische Intelligenz, und in Mathematik glänzte er. Aber in allen anderen Schulfächern schnitt er derart schlecht ab, daß einer seiner Lehrer ihn aufforderte, die Schule zu verlassen, da an ihm Hopfen und Malz verloren sei. Bei der Aufnahmeprüfung zum Polytechnikum in Zürich fiel er im ersten Anlauf durch. Er mußte die Prüfung ein Jahr später wiederholen.
Selbst nach dem Studium fiel es ihm schwer, eine Stellung zu finden. Während seiner Freizeit brütete er seine ersten Gedanken zur Relativitätstheorie aus. Nach Meinung verschiedener Historiker und Naturwissenschaftler, die an einer Umfrage der amerikanischen Zeitung The Washington Post teilnahmen, war Albert Einstein der bedeutendste Naturwissenschaftler der letzten tausend Jahre.
• Pablo Picasso: Als Pablo Picasso zehn Jahre alt war, nahm ihn sein Vater von der Schule herunter, da er nichts anderes tun wollte als malen. Er besaß eine außerordentliche räumliche Intelligenz, die aber durch die normalen Schultests nicht ermittelt wurde. Um ihm das Lesen und Schreiben beizubringen, stellte sein Vater einen Privatlehrer ein. Da sich Pablo aber weigerte, Mathematik zu lernen, gab der Privatlehrer auf. Picasso kam später auf eine Kunsthochschule, wo er alle Prüfungen glänzend bestand. Da es ihm aber dort langweilig war, brach er das Studium ab.
Picasso brachte sich selbst das Malen bei und litt lange unter Entbehrungen, bevor ihm der Verkauf eines Gemäldes gelang. Später galt er bei vielen Kunstkritikern als Spitzenmaler, und seine Gemälde haben inzwischen Erlöse in Millionenhöhe erzielt. Nach herkömmlicher Denkart aber berechtigten seine Schulleistungen zu keinerlei Hoffnung auf Lebenserfolg.
Die Moral der Geschichte
Was lehren uns diese Beispiele? Ebendies: Wir sollen niemals aufgeben. Wir sollen uns darauf konzentrieren, Charaktereigenschaften zu entwickeln, die mehr von Fleiß, Ausdauer und Selbstdisziplin abhängen, als Eigenschaften, die von angeborener Intelligenz kommen. Gerade die Eigenschaften, die mit Intelligenz nichts zu tun haben, haben sich immer wieder als ausschlaggebend für den Lebenserfolg erwiesen.
Ross Perot, der es aus eigener Kraft zum Multimillionär gebracht und auch für das Amt des US-Präsidenten kandidiert hat, sprach kürzlich auf der Abschlußfeier einer kleinen amerikanischen Universität. Zunächst wandte er sich an die Absolventen mit den besten akademischen Leistungen. Er sagte, viele von ihnen würden es im Leben nicht weit bringen, weil sie sich zu viel von ihrer Intelligenz versprechen und die Notwendigkeit harter Anstrengungen unterschätzen würden. Dann sprach er die Absolventen an, deren Leistungen dem Durchschnitt entsprachen. Er sagte, sie hätten die besten Chancen auf Erfolg, weil sie sich klar sein würden, daß er ihnen nicht in den Schoß fallen werde. Sie würden sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Sie wüßten, daß Fleiß und Ausdauer vonnöten seien.
Wer gewinnt den Wettlauf?
Diese Überlegungen erinnern uns an die berühmte Äsopsfabel vom Wettlauf der Schildkröte mit dem Hasen. Beim Start legte der flinke Hase kräftig los und erreichte innerhalb kürzester Zeit, dank seiner natürlichen Fähigkeiten, einen Riesenvorsprung. Als er seines Vorteils gewahr wurde, machte er es sich bequem und legte eine Pause ein. Sogar ein Nickerchen gönnte er sich. Als er wieder aufwachte, war die Schildkröte nicht mehr in Sicht. Der Hase machte sich wieder auf den Weg und lief so schnell er konnte, aber vergebens: Die Schildkröte war schon durchs Ziel gegangen.
Die Bibel, vor allem im Buch der Sprüche, enthält viele Erfolgsprinzipien für junge Menschen. Die göttlich inspirierten Sprüche legen mehr Wert auf charakterbildende Eigenschaften wie Fleiß, Mühe, Ausdauer, Ehrlichkeit und Gottesfurcht als auf natürliche Begabungen und Fähigkeiten. Ein Beispiel ist stellvertretend für viele: „Die fleißige Hand wird herrschen; die aber lässig ist, muß Frondienst leisten ... Einem Lässigen gerät sein Handel nicht; aber ein fleißiger Mensch wird reich“ (Sprüche 12,24. 27).
Manchen Wissenschaftlern zufolge führt ein Übermaß an Intelligenz, wenn es nicht mit entsprechenden Charaktereigenschaften gepaart ist, zu Unausgeglichenheit. Anscheinend bringen bewährte Eigenschaften wie Demut, Geduld, Selbstdisziplin, Pünktlichkeit, Fleiß und Freundlichkeit den Menschen weiter, wenn es um dauerhaften Lebenserfolg geht.
Junge Menschen sollten daher nicht verzagen. Vielleicht hatte Äsop recht: Der Preis geht oft an die Schildkröte.