Können wir einer Sünde schuldig sein, die uns gar nicht bewusst ist? Israels König David wusste, dass er seinen Charakter nicht immer richtig beurteilt hat.
Von Martin Fekete
Gewiss, jedermann hat Sünden. Das Problem ist nur, dass wir manchmal glauben, wir hätten keine (zumindest keine schlimmen). Wie ist es bei uns selbst? Gibt es da vielleicht eine geistliche Schattenseite, von der wir gar nichts wissen? Kann es sein, dass wir uns selbst täuschen oder getäuscht haben? Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst! Oder erkennt ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Wenn nicht, dann wärt ihr ja untüchtig“ (2. Korinther 13,5).
Selbstbetrug ist eine folgenschwere Täuschung, und ganz dagegen gefeit ist niemand. Jesus gebrauchte ein Gleichnis, um uns auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass wir uns selbst ganz falsch einschätzen können. Wir wollen uns einmal die Konsequenzen vor Augen führen. Lesen wir das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner in Lukas 18, Verse 9-14:
„Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die anderen, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Dieses Gleichnis ist so schlicht und klar, dass es ein Kind verstehen kann. Wir täuschen uns leider häufig über das eigene Urteil und unsere Motive. Viele Menschen brüsten sich – tue recht und scheue niemand – und bilden sich ein, Gott müsste mit ihnen zufrieden sein.
Jesus charakterisiert die zwei Hauptdarsteller in dem Gleichnis, ihre Gesinnung und ihr Handeln mit wenigen, aber klaren Worten. Wer dieses Gleichnis kennt, verbindet damit wahrscheinlich bestimmte Bilder, wie wir sie aus Erzählungen kennen. Da ist der Pharisäer, pompös gekleidet, fettleibig, ein eitler Pfau, der seine Vorzüge laut anpreist, der begierig ist nach Beachtung und Anerkennung. Demgegenüber der Zöllner: Eine magere, fast ausgemergelte Gestalt, schäbig angezogen, in gebeugter Haltung, von ergreifender sentimentaler Demut.
Machen wir es uns nicht zu einfach. Diese Vorstellungen können trügen. So wie wir uns das ausmalen, war es vielleicht nicht. Die Zöllner arbeiteten für die Besatzungsmacht und beuteten ihr eigenes Volk aus, um sich ihre Taschen zu füllen. Anders die Pharisäer: Sie hielten die Gebote Gottes, nahmen den Gottesdienst ernst und lebten so gesehen moralisch besser als die Zöllner. Sie gaben den Zehnten von allen ihren Einnahmen für die Sache Gottes und fasteten überdies zweimal in der Woche.
Wie sollen wir Gottes Sichtweise verstehen? Bedeuten diese Opfer und die Bemühungen gar nichts? Wie kann Gott einen Menschen wie den Zöllner loben und den Pharisäer, der sich so bemühte, ihm zu gefallen, beim „Examen“ durchfallen lassen?
Gottes Sichtweise
Wir wollen versuchen, diese beiden Menschen mit Gottes Augen zu sehen. Dabei können wir auch uns selbst erkennen wie in einem Spiegel.
Jesus verurteilte nicht die Bemühungen des Pharisäers, die Gebote Gottes zu befolgen, sondern seine selbstgerechte Haltung gegenüber anderen Menschen. Jesus spricht in diesem Gleichnis von „einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern“ (Vers 9). Die Verurteilung und Verachtung anderer ist eine Gesinnung von selbstgerechten Menschen.
Beide Männer bekannten vor Gott, wie sie selbst über sich dachten. Der Zöllner hatte begriffen, dass er vor Gott mit seinem belasteten Gewissen nicht bestehen konnte und hatte damit recht. Der Pharisäer pochte auf sein anständiges Leben. Er wollte nicht einsehen, dass mit den Motiven für sein Handeln etwas nicht stimmte. Er gab und fastete nicht aus frohem Herzen, sondern um bei Gott und den Menschen angesehen zu sein. Die guten Werke waren nur Selbstzweck. Darum konnte er Gott nicht gefallen.
Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit sind die Fallstricke vieler Menschen, die einen hohen ethischen Maßstab haben. Sie begehen keine „groben“ Sünden, man ertappt sie nicht beim Lügen, noch beim Stehlen. Doch die meisten dieser sogenannten guten Menschen haben einen eng gewobenen Teppich der Selbstgerechtigkeit. Ihr Urteil über sich entsteht im Blick auf solche, die weniger anständig leben.
Weshalb freuen sich Menschen, wenn sie über andere herziehen können? Der Genuss des Klatsches und der Schadenfreude liegt im Gefühl, selbst besser zu sein. Indem der Selbstgerechte andere Menschen erniedrigt, erhöht er sich selbst. Das Urteilsvermögen in Bezug auf die eigene Person wird dadurch getrübt. Wenn es um die Beurteilung unseres eigenen Charakters geht, sind wir oft verblendet. Wir finden als Entschuldigung immer einen, der schlechter lebt als wir.
Könnte das auch bei uns der Fall sein? Jesus sagt dazu: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Matthäus 5,20). Jesus macht keinen Unterschied, wenn es um Sünde geht. Er redet weder von Todsünden noch von Bagatellfällen. Jesus Christus beurteilt nicht nur die Tat, sondern auch die Gedanken, die schließlich zur Tat führen.
Man kann mit seinen Gedanken genauso sündigen wie mit den Augen, dem Mund oder den Händen (Matthäus 5,17-48). Aus dem Herzen, aus unserer selbstsüchtigen, menschlichen Natur, kommt der Unrat: „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung“ (Matthäus 15,19).
Unsere Gesellschaft heute
In unserer Gesellschaft ist der Mensch auf der Suche nach Selbstbestätigung, Selbstbewusstsein, Selbstverwirklichung und sogar Selbsterlösung. Eine Gesellschaft von Egozentrikern wächst heran. Jeder lebt auf Kosten des anderen und versucht ihn zu übertrumpfen. Ein egozentrischer, selbstsüchtiger Mensch ist kein freier Mensch, sondern Sklave seiner Wünsche und Triebe. Es ist ein Jagen nach Glück und Befriedigung. Aber statt Erfüllung ist Leere, der Verlust echter Freude und Zufriedenheit.
Gott zeigt uns in seinem Wort einen anderen Weg. Dieser Lebensweg sucht das Wohl des anderen und nimmt Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen. Wenn sich ein Mensch vom Glauben und der Abhängigkeit Gottes löst, wird er hochmütig, egozentrisch und selbstgerecht, so wie wir das heute häufig erleben und beobachten können.
Wie steht es mit uns? Stehen wir nicht auch in Gefahr, unsere vermeintlichen Vorzüge ins rechte Licht zu rücken? Nicht immer machen wir das so offensichtlich wie der Pharisäer.
Den Irrtum dieses Denkens zeigt uns der Apostel Paulus: „Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit [bzw. Selbstgerechtigkeit] aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit [Gottes] nicht untertan“ (Römer 10,3).
Wahre Gerechtigkeit kommt von Gott
Gott möchte, dass wir sein Wort als Maßstab nehmen und unser Leben danach ausrichten. Gott hatte das ernsthafte, ehrliche Gebet des Zöllners erhört. Dieser sah sich als verlorenen Sünder, angewiesen auf Gottes Barmherzigkeit und seine Vergebung. Dies ist der erste Schritt zur wahren Gerechtigkeit.
Gott liebt uns Menschen so sehr und möchte, dass alle Menschen das ewige Leben erhalten: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16). Auch der Apostel Paulus bringt das klar zum Ausdruck in seinem Brief an die Korinthergemeinde: „Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2. Korinther 5,21).
Wahre Gerechtigkeit kommt durch den Glauben als ein Geschenk Gottes, der uns seine eigene Gerechtigkeit gibt. Paulus schreibt an die Gläubigen in Rom: „Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben“ (Römer 3,22).
Gottes Gerechtigkeit ist nicht etwas, das wir durch eigenes Handeln „erwerben“ und zur Schau stellen können. Daher ist es auch falsch, sich im Wissen, in Werken oder anderen Eigenschaften mit anderen zu vergleichen. Hierin liegt eine wahre Ursache von Selbstgerechtigkeit.
Der Selbstgerechte fällt das Urteil, im Vergleich mit anderen, oft erbarmungslos. Das Urteil aber kommt alleine Gott zu. Er sieht auch ins Verborgene und daher kann nur er gerecht richten. Bei solchen Vergleichen vergisst man die Mahnung Jesu über das Richten: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (Matthäus 7,1-2).
Die Bemühungen des Pharisäers, Gott zu gehorchen, wurden von Jesus nicht verurteilt, ebenso nicht das Fasten und auch nicht die Unterstützung von Gottes Werk. Es sind grundsätzliche Dinge für jeden gläubigen Christen, Gottes Gebote zu befolgen, gelegentlich zu fasten und die Verbreitung des Evangeliums zu unterstützen. Es sind wichtige Voraussetzungen für unsere Beziehung zu Gott. Sich selbst aber für gerecht zu halten, weil man diese Voraussetzungen erfüllt, das ist falsch.
Die Gewissheit, Vergebung empfangen zu haben, hat das Leben des Zöllners bestimmt völlig verändert. Wer Vergebung von Gott erhalten hat, nachdem er seinen falschen Lebensweg eingesehen hat und zur Reue gekommen ist, bleibt nicht derselbe. Die Dankbarkeit über Gottes Liebe bestimmt sein weiteres Leben und befähigt ihn, auch andere Menschen zu lieben, anstatt sie gnadenlos zu verurteilen.