Dürfen wir andere verurteilen, wenn wir selbst nicht ohne eigene Verfehlungen sind? Bei der Nachfolge Jesu ist Barmherzigkeit wichtig.
Von Robin Webber
Zu Beginn der Bergpredigt hob Jesus Christus eine geistliche Eigenschaft hervor, die sich alle, die seiner Aufforderung „Folgt mir nach!“ nachkommen wollen, zu Herzen nehmen sollen. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“, schärfte er seinen Jüngern ein (Matthäus 5,7). Später fügte er hinzu, dass wir andere nicht verurteilen sollen (Matthäus 7,1-2). Wie sollen wir Jesu erhabene Ideale umsetzen?
Im praktischen Leben sieht die Realität oft anders aus. Die Fehltritte unserer Mitmenschen erkennen wir mühelos, sind aber manchmal hinsichtlich unserer eigenen Verfehlungen nicht einsichtig. Barmherzigkeit gegenüber anderen fällt uns aber leichter, wenn uns bewusst ist, wie sehr wir selbst auf Barmherzigkeit angewiesen sind.
Jesus wurde einmal von einer Gruppe konfrontiert, die seine Billigung ihrer verurteilenden Haltung erwartete, ohne sich aber mit ihren eigenen Sünden auseinanderzusetzen. Doch er drehte den Spieß gerechterweise um und rettete damit buchstäblich das Leben eines Menschen, der sonst der Todesstrafe ausgesetzt gewesen wäre.
Jesu Vorgehensweise in diesem Fall ist eine Lehre für uns, wenn wir die Sünden anderer wahrnehmen.
Bei einer Todsünde ertappt!
Die Geschichte beginnt, als Jesus am frühen Morgen in Jerusalem im Tempel lehrte (Johannes 8,2). Am Vortag, dem letzten Tag des Herbstfestes, „der der höchste war“, hatte er seine Zuhörer zutiefst bewegt, als er ausrief: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Johannes 7,37-38). Jesu Worte spiegelten ein traditionelles Ritual des Herbstfestes wider, bei dem Wasser vom nahegelegenen Gihon-Brunnen geholt und auf den Brandopferaltar des Tempels ausgegossen wurde.
Manche staunten über Jesu Worte, mit denen er sich als Messias und Gott Israels identifizierte, die Quelle lebendigen Wassers des heiligen Geistes. Andere reagierten mit Empörung und wollten „ihn ergreifen; aber niemand legte Hand an ihn“ (Johannes 7,44).
Nun ist es der nächste Tag, und Jesus ist wieder im Bereich des Tempels, um die Menschen zu belehren. Jesu Feinde nutzten diese Gelegenheit, um ihn vor der versammelten Menge zu diskreditieren.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer „brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte“ (Johannes 8,3). Die Frau wurde nicht nur des Ehebruchs beschuldigt, sondern wurde anscheinend „auf frischer Tat beim Ehebruch“ erwischt (Vers 4). Wenig Fantasie ist erforderlich, um sich die Situation vorzustellen, in der die geängstigte Frau entdeckt wurde. Vor diesem Hintergrund konnte sie sich gegen den Vorwurf des Ehebruchs unmöglich verteidigen.
Jesu Gegner fragten ihn: „Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ (Vers 5). Es ging eigentlich nicht vordergründig um die sündige Frau selbst. Sie war nur ein Mittel zum Zweck, „damit sie ihn verklagen könnten“ (Vers 6).
Die Frage der Schriftgelehrten und Pharisäer war in der Tat eine gewiefte Fangfrage. Hätte Jesus ihnen zugestimmt, dass sie gesteinigt werden sollte, hätte er die Position seiner Gegner gestärkt und seinem Ruf, der auf der Bereitschaft zur Vergebung und der Barmherzigkeit beruhte, geschadet. Hätte er aber gesagt, dass sie nicht bestraft werden sollte, hätten sie ihm eine gesetzeswidrige Haltung vorwerfen können.
Handgeschriebenes auf der Erde
Die Schriftgelehrten und Pharisäer warteten auf Jesu Antwort, doch er schwieg zunächst. Anstatt zu antworten, bückte sich Jesus und „schrieb mit dem Finger auf die Erde“, als hätte er seine Fragesteller gar nicht gehört (Johannes 8,6). Ist es möglich, dass er als der Sohn Gottes Dinge über diejenigen wusste, die Steine in ihren Händen hielten, und diese Dinge im Staub der Erde notierte?
Eine andere Möglichkeit der Auslegung finden wir beim Propheten Jeremia. Dort lesen wir in Kapitel 17, Vers 13: „Denn du, Herr, bist die Hoffnung Israels. Alle, die dich verlassen, müssen zuschanden werden, und die Abtrünnigen müssen auf die Erde geschrieben werden; denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers.“
Was „auf die Erde geschrieben“ wird, ist von keiner Permanenz. Im Gegensatz zu den Abtrünnigen sind die Namen der Gerechten „im Himmel“ geschrieben (Lukas 10,20), d. h. im „Buch des Lebens“ (Offenbarung 13,8; 20,12. 15).
Am Vortag hatte Jesus sich als die Quelle lebendigen Wassers bezeichnet (Johannes 7,37-38), doch die religiösen Führer der Juden haben ihn gleich abgelehnt (Verse 45-53). Als diese Führer ihn am nächsten Morgen in eine Falle locken wollten, schrieb er mit dem Finger auf die Erde. Seine Gegner wären wohl mit dem Wortlaut von Jeremia 17, Vers 13 vertraut gewesen. Jesu Handlung hätte sie stark beunruhigt, auch wenn sie das, was er schrieb, nicht genau sehen bzw. lesen konnten.
Christus stand dann auf und äußerte einen der bemerkenswertesten Sätze, die wir in der Bibel finden: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Vers 7). Jesus hat die Sünde der Frau keineswegs minimiert, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf deren Ankläger. Warum tat er das?
Als Erstes sollen wir verstehen, dass der Gott, den die Israeliten im Alten Testament erlebten, auch derjenige war, der in Menschengestalt als Jesus Christus auf die Erde kam (lesen Sie dazu unsere kostenlose Broschüre Jesus Christus: Die wahre Geschichte). Er hatte Israel ein gerechtes Rechtssystem gegeben, das die Todesstrafe für Ehebruch vorsah. Was war also das Problem?
Manche Kommentatoren weisen auf die Nichtbeachtung der Anweisung in 3. Mose 20, Vers 10 und 5. Mose 22, Vers 22 hin, wonach beide am Ehebruch Beteiligten die gleiche Strafe erfahren sollten. Wo war aber in diesem Fall der schuldige Mann? Es ist möglich, dass er entflohen war. Da das aber nicht erwähnt wird, lag wahrscheinlich etwas anderes vor. Vielleicht hatten diejenigen, die sich so sehr um die Einhaltung des Gesetzes sorgten, sich selbst zum Gesetz gemacht.
Einige Kommentatoren meinen, dass die schuldige Frau von ihren Anklägern in eine Falle gelockt worden sein könnte, um eine Konfrontation mit Jesus zu provozieren. Ehebruch ist meistens ein Vergehen, das die Beteiligten geheim halten wollen – es gibt also kaum Zeugen. Wären die „Zeugen“ aber bereits vor Ort mit Vorkenntnis dessen, was geschehen sollte – um dann Anklage erheben zu können –, wären sie in einem Sinne auch Komplizen gewesen und hätten dieselbe Strafe wie die schuldige Frau verdient.
Was immer die näheren Umstände waren, die Ankläger hatten sich auch solcher Vergehen schuldig gemacht, für die die Todesstrafe nach israelitischem Recht vorgesehen war. Sie waren an einem Mordkomplott gegen Jesus beteiligt (Johannes 7,19. 25. 30). Selbst die Anklage gegen die Ehebrecherin war in Wirklichkeit ein Versuch, Jesus zu diskreditieren und ihn einer gesetzwidrigen Haltung zu überführen.
Das Vorgehen der Schriftgelehrten und Pharisäer war abscheulich und heuchlerisch. Sie hatten sich zu Richtern und zugleich Henkern erhoben und meinten, ihr Urteil wäre göttlich. Jesus beteiligte sich nicht an ihrem Hohn gegenüber dem Rechtssystem, das er selbst dem alten Israel gegeben hatte.
Nachdem Jesus die Ankläger der Frau zur Selbstanalyse aufgefordert hatte, „bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde“ (Johannes 8,8). Einer nach dem anderen, „die Ältesten zuerst“, zog sich zurück, „und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand“ (Vers 9). Nicht nur die Frau, sondern auch ihre Ankläger wurden der Sünde überführt.
Ein starker Kontrast wird deutlich
An dieser Stelle wird Jesu Haltung der sündigen Frau gegenüber deutlich: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?“ (Johannes 8,10). Nachdem sie seine Frage bestätigte, fuhr Jesus fort: „So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr“ (Vers 11).
Juristisch gesehen waren keine Ankläger mehr da, womit die Anklage nicht länger rechtskräftig war. Doch Jesus hatte trotzdem eine wichtige Botschaft für die Frau. Er ignorierte ihre Sünde nicht, hat er sie doch zweimal erwähnt. Er wusste, dass die Frau gesündigt hatte, aber er entschied sich dafür, ihr eine Zukunft zu gewähren. Das war keine „billige Gnade“ oder ein leichtfertiger Umgang mit der Sünde. Indem er ihr Barmherzigkeit erwies, bestätigte er das Gesetz. Er forderte sie auf, mit der Sünde aufzuhören und ihr Leben in Gerechtigkeit neu auszurichten.
Im Grunde sagte er: „Du bekommst eine zweite Gelegenheit. Ich habe dir ein neues Leben geschenkt. Hör auf zu sündigen! Schau jetzt nach vorne, und tue nicht mehr, was du gerade getan hast!“ In diesem Augenblick erfassten die Ströme lebendigen Wassers, die Jesus am Vortag erwähnt hatte, die Frau.
Was für ein starker Kontrast zwischen der Mentalität der Gesetzeslehrer der Juden und der Denkweise desjenigen, der gekommen war, um den Geist des Gesetzes darzulegen! Jesus war bereit, der Frau zu vergeben und dabei die Gültigkeit des Gesetzes zu bestätigen. Diejenigen, die die Frau vor ihn gebracht hatten, waren Jesus gegenüber feindselig eingestellt und hatten nur die Verurteilung der Frau im Sinn.
Ihr gewünschter Ausgang des Falls für die Frau und Christus rechtfertigte jedes Mittel, um ihr böses Ziel zu erreichen. Sie hatten das Gesetz selbst übertreten, waren aber trotzdem schnell dabei, andere zu verurteilen. Ihr Unvermögen, anderen Barmherzigkeit zu erweisen oder ihr eigenes Bedürfnis nach Gottes Barmherzigkeit zu erkennen, war beschämend.
Welche Wahl treffen wir?
Die Lektion für uns heute dürfte ersichtlich sein. Vergebung und Barmherzigkeit oder Unversöhnlichkeit und Verurteilung ist eine Wahl, vor der wir oft im Leben stehen. Die religiösen Führer zur Zeit Jesu trafen die Wahl, jemanden gerade in der Jahreszeit, die sie an ihre Befreiung von der Knechtschaft in Ägypten erinnern sollte (3. Mose 23,42-43), zu verurteilen.
Anstatt andere zu beschuldigen und zu verurteilen, sollen wir uns lieber mit unserem eigenen geistlichen Zustand befassen, uns von der Sünde abwenden und Gott um Barmherzigkeit anflehen. Wenn wir sie erfahren, sollen wir anderen auch Barmherzigkeit erweisen. Das bedeutet nicht, dass wir die Sünde tolerieren sollen. Es gilt aber, unseren eigenen Stand mit Gott zuerst ins Reine zu bringen, bevor wir uns mit den Verfehlungen anderer Menschen befassen (Matthäus 7,1-5).
Es gibt auch ein anderes biblisches Beispiel von Handgeschriebenem, das an einer Wand in Babylon erschienen ist (Daniel 5,5). Die Schrift an der Wand lautete „mene mene tekel u-parsin“ (Vers 25), die der Prophet Daniel zum Teil wie folgt auslegte: „Man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden“ (Vers 27).
Jene Botschaft galt nicht nur einem heidnischen König der Antike, sondern bezieht sich als zeitlose Botschaft auf uns alle, bevor Gott uns zu einem Leben in Christus beruft, das durch sein Sühneopfer möglich wurde.
Barmherzigkeit ist ein unglaubliches Geschenk. Haben Sie sich jemals den Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit überlegt? Gerechtigkeit widerfährt uns, wenn wir die Strafe erhalten, die wir aufgrund unserer Fehler verdient haben. Barmherzigkeit ist die Gnade, die wir nicht verdienen können, die uns aber trotzdem geschenkt wird.
Die Geschichte der Frau, die die Schriftgelehrten und Pharisäer vor Christus gebracht haben, ist in einem Sinne auch unsere persönliche Geschichte. Genauso wie die Frau damals schuldig war und unerwarteterweise ein neues Leben geschenkt bekam, stehen auch wir als Schuldige vor Gott. Werden wir ihm uns eine Wende in unserem Leben schenken lassen, indem wir „hinfort nicht mehr sündigen“?
Wenn wir Gottes Berufung annehmen und Jesu Aufforderung „Folgt mir nach!“ beherzigen, werden wir „Handgeschriebenes“ erleben, das weitaus eindrucksvoller ist als das, was einmal an einer Wand in Babylon oder in der staubigen Erde des Tempels geschrieben wurde. Gott wird uns sein Gesetz ins Herz und unsere Namen ewiglich ins Buch des Lebens schreiben!
Freuen wir uns über die Barmherzigkeit, die Gott uns zu schenken bereit ist, und teilen wir sie mit unseren Mitmenschen. In unserem persönlichen Umfeld wird es wohl reichlich Gelegenheit dazu geben.