Gott bietet uns die unschätzbare Gabe der Vergebung an, verlangt aber als Gegenleistung, dass auch wir unseren Mitmenschen vergeben. Welche Bedeutung hat die Vergebung für uns?
Von Robin Webber
Um einen lang anhaltenden Streit beizulegen, suchten zwei Brüder einen Rabbiner auf. Dank der Vermittlung des Rabbiners einigten sie sich und gaben sich die Hand als Geste der Versöhnung. Als sie sich von dem Rabbiner verabschieden wollten, bat er sie, dem andern etwas Gutes zur Feier des jüdischen Neujahrs als Zeichen des Neuanfangs zu wünschen. Der erste Bruder wandte sich an den anderen und sagte: „Ich wünsche dir dasselbe, was du mir wünscht.“ Darauf antwortete sein Bruder: „Siehe da, Rabbi, er fängt schon wieder damit an!“
Die Moral der Geschichte ist: Warum merken wir die Unversöhnlichkeit so schnell bei anderen, aber nicht bei uns selbst? Und: Welche Art Vergebung – wenn überhaupt welche – gewähren Sie anderen?
Ist uns bewusst, dass wir jeden Tag die Auswirkungen unserer Bereitschaft zum Vergeben erleben? Unsere Bereitschaft dazu kann einen Neuanfang für eine bisher belastete Beziehung bedeuten. Fehlende Bereitschaft zum Vergeben führt hingegen zur Fortsetzung unserer emotionalen und geistlichen Lähmung, was nicht zur Aufforderung Jesu „Folgt mir nach!“ gehört.
In dem sogenannten Vaterunser gab Christus uns den Kurs an, den er von uns erwartet: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Matthäus 6,12). „Schuld“ bedeutet die Strafe für Fehlverhalten, wie das in den nachfolgenden Versen bekräftigt wird: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen [ihr Verhalten Ihnen gegenüber] vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Matthäus 6,14-15).
Diese erstaunliche Feststellung offenbart eine klare geistliche Realität: Ist uns Gottes Bereitschaft zur Vergebung unserer Sünden bewusst geworden, hängt seine Vergebung in gleichem Maße von unsrer Bereitschaft zur Vergebung unserer Mitmenschen ab.
Nun mögen Sie an dieser Stelle einwenden: „Aber das ist manchmal so schwer!“ Nun gut, ich bin auch Mensch, aber unser himmlischer Vater beruft uns dazu, seinem Sohn Jesus Christus ähnlich zu werden und nicht so zu bleiben, wie wir es von Natur aus gewesen sind. Wie reagieren wir auf Christi Aufforderung „Folgt mir nach!“, wenn es darum geht, anderen zu vergeben? Bei unserer Untersuchung dieses Themas sollen wir daran denken, dass Jesus uns keinen leichten Weg versprochen hat. Er hat aber versprochen, dass es sich lohnen wird.
„Immer bereit zu vergeben“
Als Erstes müssen wir den Unterschied zwischen Gott und uns verstehen, wenn wir Gottes Eigenschaften in Bezug auf Vergebung nachahmen wollen. Psalm 86, Vers 5 beschreibt Gottes Charakter: „Herr, du bist so gut und immer bereit zu vergeben, voller Gnade für alle, die dich um Hilfe bitten“ („Neues Leben“-Übersetzung; Hervorhebung durch uns).
Gott ist zum Vergeben bereit. Dieser herausfordernde Aspekt wahrer Liebe ist ein Grundelement seiner Wesensart. Gott freut sich auf den Augenblick, wenn seine Bereitschaft zur Vergebung Wirklichkeit wird.
Das größte Beispiel dieser Bereitschaft finden wir in dem Ausspruch eines sterbenden Mannes, den man zur Hinrichtung an einen Balken genagelt hatte. An der Stätte, die Golgatha hieß, sagte Jesus vor seinem Tod: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34).
Mit seiner Bitte erfüllte Jesus unter den widrigsten Umständen den Geist dessen, wozu er uns in Matthäus 6 aufgefordert hatte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Vers 12).
In unserem Grundkurs für Christen lernen wir daher, dass Gott nichts von uns verlangt, wozu er nicht selbst bereit ist. Wir dürfen nie vergessen, was Gott für uns tat, damit wir seine rettende Gnade erfahren durften und wie unser Leben war, bevor wir Jesu Aufforderung „Folgt mir nach!“ erkannten und beherzigen wollten.
Die barmherzige Gnade, die wir erfahren durften, möchte Gott auch anderen Menschen erzeigen. Wir ahmen seinen Charakter nach, wenn wir ebenfalls unseren Mitmenschen gegenüber gnädig sind. Das zeigt sich in unseren Worten und Taten.
Auf einem Friedhof unweit der Stadt New York gibt es einen Grabstein, dessen Inschrift aus nur einem Wort besteht: „Vergeben“. Die Botschaft ist einfach und unausgeschmückt. Außer dem Namen des Verstorbenen steht sonst nichts auf dem Grabstein: kein Geburts- oder Sterbedatum. Es gibt nur einen Namen und das Wort „Vergeben“ – ein bemerkenswertes Zeugnis der zeitlich befristeten Existenz eines Menschen vor seinem Schöpfer, dem großen Vergebenden.
Das ist aber nur die Hälfte der Formel, die uns Jesus Christus gegeben hat. Gottes Vergebung in Anspruch zu nehmen bedeutet, dass wir selbst zum Vergeben bereit sein sollen. Wir sind nur halbe Christen, wenn wir Gottes Gnade annehmen, aber nicht bereit sind, unseren Mitmenschen zu vergeben. Ein halber Christ zu sein ist wie halbschwanger, und das gibt es nicht. Entweder ist man es, oder man ist es nicht.
Das ist die Herausforderung für alle, die Jesu Nachfolger sein wollen. Als der britische Evangelist John Wesley einst im 18. Jahrhundert mit dem Gründer der amerikanischen Kolonie Georgia, General James Oglethorpe, über einen Verbrecher redete, meinte Oglethorpe: „Ich vergebe nie.“ Dazu meinte Wesley: „Dann hoffe ich, mein Herr, dass Sie nie sündigen!“
Schmerzen und Verletzungen hinter uns lassen
Wie überwinden wir die geistliche Kurzsichtigkeit, die in Oglethorpes Ausspruch verbalisiert wurde? Wie ergänzen wir die Inschrift auf dem Grabstein, damit sie „vergeben und vergebend“ lautet? Dazu muss ein Christ diese drei großen Wahrheiten erkennen und beherzigen:
1. Uns wurde vergeben und jetzt leben wir unter Gottes Gnade. Psalm 103 beschreibt unseren gnädigen Gott und Erlöser: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt“ (Psalm 103,2-3), „der dein Leben vom Verderben erlöst“ (Psalm 103,4). Gott „handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat“ (Psalm 103,10), denn „so fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein“ (Psalm 103,12). Diese Beschreibung vermittelt den Eindruck, dass Gott uns vergeben möchte, nicht wahr?
2. Obwohl uns vergeben wurde, bleiben wir trotz unserer Bemühungen, Gottes Charakter nachzuahmen, unvollkommen. Das war das Geständnis des Apostels Paulus in Römer 7, Verse 18-19: „Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ An dem Beispiel des Apostels erkennen wir, dass auch unsere persönliche Überwindung nicht abgeschlossen ist.
3. Uns wurde vergeben, und deshalb müssen auch wir bereit zum Vergeben sein. Als Gottes menschliche Werkzeuge sollen wir das, was wir von Gott erhalten haben, mit anderen teilen. Apostelgeschichte 20, Vers 35 erinnert uns an ein wichtiges Merkmal des Christseins: „Behaltet die Worte von Jesus, dem Herrn, in Erinnerung: Es ist segensreicher zu geben als zu nehmen“ („Neues Leben“-Übersetzung). Ja, Gottes Gnade in Dankbarkeit anzunehmen soll zur Folge haben, dass wir uns gegenüber unseren Mitmenschen gnädig zeigen.
Befreiung durch Vergebung
Das bisher Behandelte war für Sie wahrscheinlich nichts Neues. Sie wissen, wie wichtig die Vergebung für unsere Beziehung zu Gott und zu unserem Nächsten ist. Doch warum ist das Vergeben oft so schwierig?
Lassen Sie mich aus Tim LaHayes 2010 veröffentlichtem Buch Anger Is a Choice zitieren: „Die Vergebung ist sehr kostspielig. Es kostet Sie etwas, nicht die Person, der Sie vergeben. Vergebung bedeutet, dass es manchmal keine Gerechtigkeit gibt. Sie baut das Haus nicht wieder auf, das niederbrannte, weil jemand mit Streichhölzern sorglos umgegangen ist. Die Vergebung kittet nicht immer eine kaputte Ehe. Die Vergebung macht die Vergewaltigte nicht wieder jungfräulich. Die Vergebung ist ein Loslassen, ein Lösen des Würgegriffs, mit dem Sie Ihre Schmerzen festhalten“ (Seite 88).
Ja, Vergebung kann zur Folge haben, dass man einen Verlust hinnehmen muss. Nein, Vergebung ist nicht einfach, aber überlegen wir die Alternativen: 1. ein Sklave früherer Ungerechtigkeiten zu bleiben; 2. täglich ein Gefangener negativer Emotionen zu sein, 3. womit man sich selbst und den eigenen Lieben eine positive Zukunft raubt.
Im Gegensatz dazu gibt es die Erfahrung einer Frau, die sich viel Mühe gab und dadurch die Vorteile erntete, die der Prozess der Vergebung mit sich bringt. Während des Zweiten Weltkriegs versteckten manche Familien in den Niederlanden ihre jüdischen Mitbürger vor den Nazis. Dafür mussten einige mit dem Leben büßen, andere wurden inhaftiert. Zu den Letzteren gehörte Corrie ten Boom, die nach dem Krieg als Autorin und Dozentin tätig war. In ihrem Buch Die Zuflucht schilderte sie, wie sie von der Vergebung herausgefordert wurde, als sie einmal ihrem Peiniger gegenüberstand.
Zwei Jahre nach ihrer Erfahrung als KZ-Häftling in Ravensbrück hielt sie eine Reihe von Vorträgen zum Thema Vergebung in München. Dabei stand sie eines Tages einem der gemeinsten deutschen KZ-Wächter gegenüber, an dem sie und ihre Schwester einmal nackt vorbeimarschieren mussten. Ihre Schwester war später in Ravensbrück gestorben. Der Mann sagte, dass er in der Zwischenzeit bereut hatte und Christ geworden war. Er streckte ihr die Hand entgegen und fragte: „Werden Sie mir vergeben?“
Sie beschreibt die Szene: „Kälte umklammerte mein Herz. Doch Vergebung ist kein Gefühl, sondern in erster Linie ein Akt des Willens. Ich betete und hob die Hand. Ich betete darum, dass Gott mir das Gefühl der Vergebung schenken möge. Mit einer mechanischen Bewegung legte ich meine Hand in die Hand, die sich mir entgegenstreckte.
Dann geschah etwas Unglaubliches! Ein heißer Strom entsprang in meiner Schulter. Er lief meinen Arm entlang und sprang über in unsere beiden Hände. Mein ganzes Sein wurde von dieser heilenden Wärme durchflutet. Ich hatte plötzlich Tränen in den Augen und konnte sagen: ‚Ich vergebe dir! Ich vergebe dir von ganzem Herzen.‘ “
Corrie ten Boom schrieb abschließend über dieses Erlebnis, dass sie niemals die Liebe Gottes so erlebt hatte, wie damals in diesem Augenblick.
Ihr Beispiel lässt uns eine tief greifende Wahrheit erkennen: Wenn wir jemandem vergeben, befreien wir einen Gefangenen, und wir entdecken, dass wir der Gefangene waren!
Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich anlässlich einer Trauerfeier auf einem Friedhof. Dort fiel uns ein Grabstein auf, der dem bereits erwähnten „Vergeben“-Grabstein ähnlich war. Auf diesem Grabstein standen ein Name, ein Geburtstag und Todestag und ein kurzer Satz: Jesus ist der Sieger. Ja, das ist er, und durch Vergebung möchte er uns den Sieg schenken.
Was für ein Mensch werden Sie sein?
Passen Sie jetzt bitte gut auf. Bedeutet die Bereitschaft zur Vergebung, dass wir uns ständig des Missbrauchs – ob verbal, emotional, körperlich oder sexuell – wehrlos aussetzen und ihn einfach hinnehmen müssen? Auf keinen Fall! Das meinte Jesus nicht mit seiner Aufforderung, jemandem „die andere Backe darzubieten“ (Matthäus 5,39).
Wahre Liebe, Weisheit und Geduld lehren uns, dass wir bei manchen Angelegenheiten und Personen eine Zeit lang Abstand walten lassen müssen. Bei manchen Leuten sollen wir zur Vergebung bereit sein, ohne dass es gleich zur Annäherung oder vollständigen Aussöhnung kommt. Die Bereitschaft zur Vergebung bedeutet, dass wir keinen Groll hegen bzw. nicht rachsüchtig sind. In solchen Fällen wird Gott zu gegebener Zeit eine Wiederherstellung der Beziehung durch sein Eingreifen möglich machen.
Wollen Sie den Grundkurs in christlicher Lebensführung bestehen? Jesus Christus wird Ihnen dabei helfen, damit auch Sie sagen können: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“