Die traditionelle Geschichte von Jesu Geburt ist allgemein bekannt: Als Josef und Maria in Bethlehem ankamen, gab es kein Zimmer für sie in der Herberge. So brachte Maria Jesus im Stall zur Welt. Stimmt diese Geschichte wirklich? Finden Sie selber heraus, ob sie wahr ist!
Von Mario Seigle und Tom Robinson
Uns allen ist die traditionelle Weihnachtsgeschichte über die Geburt Jesu bekannt. Die „Herberge“ in Bethlehem war belegt, sodass es keinen „Raum“ mehr für zusätzliche Gäste gab. Deshalb suchten Josef und Maria in einem Stall Unterkunft. Dort wurde Jesus geboren und in eine Krippe gelegt.
Diese Geschichte ist die Grundlage für die typische Krippenszene zu Weihnachten, mit der so viele Generationen aufgewachsen sind. Eine sorgfältige Analyse des biblischen Textes offenbart aber eine ganz andere Geschichte!
Keine Herberge, sondern ein Gästezimmer
Die bekannte Lutherübersetzung von Lukas 2, Vers 7 berichtet, wie Maria Jesus zur Welt brachte: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
Lukas, der den Apostel Paulus auf seiner zweiten Reise begleitete, verfasste sein Evangelium in der griechischen Sprache. Das griechische Wort für „Herberge“ ist kataluma. Kataluma ist ein Ort der Ruhe, normalerweise ein Gästezimmer. Das griechische Wort für „Herberge“ im Lukasevangelium, Kapitel 2, Vers 7 bedeutet also Gästezimmer.
Derselbe Autor Lukas benutzt dieses griechische Wort auch etwas später in seinem Evangelium. Dabei handelt es sich ganz eindeutig um ein Gästezimmer und nicht um eine Herberge. Lukas berichtet in Kapitel 22, Vers 11, wie Jesus zu seinen Jüngern sagte: „Sprecht zu dem Hausherrn: Der Meister lässt dir sagen: Wo ist das Gastzimmer[kataluma], in dem ich mit meinen Jüngern das Passah essen kann?“ (Schlachter-Bibel; Hervorhebung durch uns).
An einer weiteren Stelle in seinem Evangelium benutzt Lukas ein anderes griechisches Wort als das Wort kataluma, als er über eine Herberge schreibt. In dem Gleichnis vom guten Samariter erzählt Jesus, wie ein verletzter Mann zu einer Herberge gebracht wurde. Hier benutzt Lukas das griechische Wort pandokheion, das allgemein gebräuchliche Wort für Herberge. Wir lesen darüber in Lukas, Kapitel 10, Vers 34, als der Samariter den verletzten Mann „auf sein Tier [hob] und ihn in eine Herberge [brachte ] und ihn [pflegte].“
Interessanterweise haben die arabische und syrische Übersetzung des Neuen Testamentes, die eher einen nahöstlichen Kontext wiedergeben, kataluma nie als „Herberge“ übersetzt, sondern als „Gästezimmer“. Kenneth Bailey, der sich mit nahöstlicher Kultur und dem Neuen Testament befasst, hebt Folgendes hervor: „Diese Übersetzung [des Wortes ,Herberge‘] ist ein Produkt unseres westlichen Erbes“ („The Manger and the Inn: The Cultural Background of Luke 2:7“, Bible and Spade, Herbst 2007, Seite 103).
Die Neue Genfer Übersetzung benutzt den Begriff „Unterkunft“ statt Herberge: „Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen.“ In einem Verweis wird hinzugefügt: „Sie hatten keinen anderen Platz in der Unterkunft bekommen.“
Beachten Sie die Übersetzung „Platz“ oder „Raum“. Im Zusammenhang mit der „Herberge“ gehen die meisten davon aus, dass ein separates Zimmer („kein Raum in der Herberge“) gemeint ist. Häufig hatten die Herbergen in dieser Zeit aber keine separaten Zimmer. Die Schriftstelle bezieht sich hier ganz einfach auf genügend Platz. Lukas berichtet uns, dass es nicht genügend Platz bzw. nicht genügend Raum in dem Gästezimmer gab. Die sprachlichen Hinweise zeigen, dass Lukas das Wort kataluma nicht im Sinne einer Herberge benutzte, sondern im Sinne eines Gästezimmers, genauer: Es handelte sich um ein bestimmtes Gästezimmer eines bestimmten Hauses.
Historische Faktoren
Das Nachschlagewerk The International Standard Bible Encyclopedia betont, dass es sich beim Wort kataluma anderswo in den Evangelien um ein Gästezimmer in einem Privathaus handelt: „War die ,Herberge‘ in Bethlehem, wo Josef und Maria eine Unterkunft suchten, ein Gästezimmer in einem Privathaus oder handelte es sich um eine Art öffentlichen Aufenthaltsort für Reisende? Diese Frage kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Manche meinen, dass es ein Gästezimmer, das von der örtlichen Kommune bereitgestellt wurde, hätte sein können. Wir wissen, dass Gäste zu den jährlichen Festtagen in Jerusalem in Gästezimmern von Privathäusern untergebracht wurden“ (1982, Band 2, „Inn“, Seite 826).
Ein anderer Faktor, der gegen eine „Herberge“ spricht, ist, dass solche Häuser nicht für die Geburt eines Kindes geeignet waren. Zu dieser Zeit waren Herbergen nicht mit typischen Pensionen oder Hotels zu vergleichen, wie wir sie heute kennen. „Allgemein gesprochen hatten Herbergen einen schlechten Ruf . . . Der schlechte Ruf dieser öffentlichen Herbergen, zusammen mit dem semitischen Geist der Gastfreundschaft, führte die Juden und die ersten Christen dazu, ihre Häuser für das Wohl der Fremden zu öffnen“ (ebenda).
Außerdem befanden sich Herbergen zu kommerziellen Zwecken gewöhnlich an den stark frequentierten Hauptstraßen. Bethlehem war aber ein kleines Dorf in den Bergen Judäas. Es ist nicht bekannt, dass eine große römische Straße durch Bethlehem führte. Da es damals ein unbedeutendes Dorf gewesen zu sein scheint, ist es zweifelhaft, ob es dort überhaupt eine Herberge gegeben hat.
Umso nachvollziehbarer ist die Sichtweise, wonach Lukas in Wirklichkeit darüber berichtete, dass es keinen Platz im Gästezimmer gab. Da die römische Volkszählung zu dieser Zeit stattfand, war der Platz in den Gästeunterkünften sicherlich knapp.
Die Frage ist also: Bedeutet das, dass Josef und Maria bei jemandem zu Hause übernachten wollten, aber da das Gästezimmer belegt war, wurden sie in der Nacht zu einem Stall geschickt, und zwar als bei Maria die Wehen eintraten? Das scheint noch schlimmer zu sein, als von einer Herberge abgewiesen worden zu sein. Natürlich sind beide Szenarien schrecklich – und ganz bestimmt ziemlich ungastlich! Allerdings wäre das für die damaligen Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich gewesen.
Eine Kultur der Gastfreundschaft und der Ehrung der Verwandtschaft
Zur Zeit Christi war die Gastfreundschaft gegenüber Besuchern unter den Juden sehr wichtig, denn sie basierte auf biblischem Beispiel und Gesetz. In 5. Mose, Kapitel 10 und Vers 19 wies Gott die Israeliten an, Fremdlinge zu lieben. 3. Mose, Kapitel 19, Vers 33 mahnt: „Unterdrückt nicht die Fremden, die bei euch im Land leben“ (Gute Nachricht Bibel). Die Verweigerung von Gastfreundschaft wurde in der ganzen Schrift als Schandtat angesehen. Gastfreundschaft gegenüber Besuchern ist im Nahen Osten heute immer noch wichtig.
Darüber hinaus stammten Josefs Vorfahren aus Bethlehem und er hatte dort wahrscheinlich noch Verwandte. Da er außerdem noch ein Nachkomme von König David war und in dessen Heimatstadt zurückkehrte, wäre er bei seiner Ankunft sehr respektiert worden. Denken Sie an einen Nachfahren des ersten amerikanischen Präsidenten George Washington, wenn er nach langer Zeit Washingtons Heimatstadt Alexandria in Virginia wieder besuchen würde. Die Bürger Alexandrias würden ihm Respekt zollen.
Kenneth Bailey führt dazu aus: „Meine 30-jährige Erfahrung mit Dorfbewohnern im Nahen Osten zeigt, dass die Gastfreundschaft, die einem Reisenden erwiesen wird, immer noch aktuell ist – besonders dann, wenn es sich um einen zurückkehrenden Sohn des Dorfs handelt, der Obdach braucht. Wir haben Fälle erlebt, bei denen das ganze Dorf einem jungen Mann eine Feier bereitet hat, dessen Großvater vor vielen Jahren das Dorf verlassen hatte“ (Seite 103).
Zu beachten ist auch, dass die Geburt eines Kindes damals ein wichtiges Ereignis war. In einem kleinen Dorf wie Bethlehem wären die Frauen aus der Nachbarschaft gekommen, um bei der Geburt zu helfen. Dazu nochmals Kenneth Bailey: „Bei einer Geburt sitzen die Männer getrennt mit anderen Nachbarn, während der Geburtsraum voller Frauen ist, die der Hebamme Hilfe leisten. Ein Privathaus hätte genügend Bettzeug und könnte warmes Wasser bereitstellen und alles andere, was man für eine einfache Hausgeburt brauchte“ (Seite 102).
Was bedeutet das alles? Es wäre als grobe Beleidigung und ein Verstoß gegen den kulturellen Brauch undenkbar gewesen, dass man Josef, einem zurückkehrenden Sohn des Dorfs, und seiner Frau, die kurz vor der Entbindung eines davidischen Nachkommens stand, keine Unterkunft geboten hätte. Das kann nicht der Fall gewesen sein. Noch kann es der Fall sein, dass ihnen die Aufnahme mitten in der Nacht verwehrt wurde.
Was ist also passiert?
Den biblischen Text genau lesen
Leider ist die Geburt Christi mit so viel falscher Tradition behaftet, dass man den Aussagen des biblischen Textes kaum Beachtung schenkt. Aufgrund der Tradition gehen viele davon aus, dass Josef und Maria in Bethlehem ankamen, als Marias Geburtswehen anfingen. Sie eilten zur Herberge, nur um dort abgewiesen zu werden, und landeten deshalb in einem Stall, wo Maria Jesus zur Welt brachte.
Liest man aber den biblischen Text genau, erfährt man, dass Josef und Maria bereits einige Tage in Bethlehem waren, bevor die Geburtswehen einsetzten. Beispielsweise heißt es in Lukas 2, Verse 4-6: „Es ging aber auch Josef von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa, in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt, weil er aus dem Haus und Geschlecht Davids war, um sich einschreiben zu lassen mit Maria, seiner Verlobten, die schwanger war. Und es geschah, als sie dort waren, wurden ihre Tage erfüllt, dass sie gebären sollte.“
Sie müssen also bereits irgendwo in Bethlehem untergebracht gewesen sein, als die Geburtswehen einsetzten. Ganz sicher übernachteten sie nicht tagelang im Stall, denn Josef hätte eine geeignete Bleibe für sich und seine hochschwangere Frau finden können.
In der Tat wohnte Marias Cousine Elisabeth nicht weit entfernt. Maria hatte sie während ihrer Schwangerschaft einige Tage besucht (Lukas 1,39-40). Wenn sie ohne Unterkunft gewesen wären, warum haben sie nicht Elisabeth aufgesucht? Die Antwort ist ganz einfach. Sie hatten eine Unterkunft in Bethlehem gefunden, und zwar wahrscheinlich bei Josefs Verwandten.
Da sie bereits eine Unterkunft hatten, ist es unsinnig, dass sie sich auf einmal, als Marias Geburtswehen einsetzten, auf die Suche nach einer neuen Bleibe machten. Doch einige mögen an dieser Stelle fragen: Warum wurden sie zum Stall geschickt? Die Antwort lautet: So war es nicht.
Geburt im Haus, nicht in einer Krippe
Die Archaeological Study Bible kommentiert die Geburt Jesu folgendermaßen: „Die ,Krippe‘ war eine Futterkrippe für Tiere. Das ist der einzige Hinweis, dass Jesus im Stall geboren wurde. Nach der frühen Tradition soll es sich um eine Höhle gehandelt haben, die als Stall genutzt wurde. Im 2. Jahrhundert n. Chr. schrieb Justin der Märtyrer, dass die Geburt Jesu in einer Höhle nahe Bethlehem stattfand. An der traditionellen Stätte dieser Höhle ließen der römische Kaiser Konstantin (330 n. Chr.) und seine Mutter Helena die Geburtskirche errichten“ (2005, Seite 1669).
Zu beachten ist, dass nur die Futterkrippe als Hinweis auf einen Stall dient. In der Tat hätte man eine Futterkrippe im Stall finden können, doch im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung fand man sie auch in Häusern! Im typischen jüdischen Haus jener Zeit gab es eine Stelle nahe des Eingangs zum Haus, oft mit einem Lehmfußboden, wo die Tiere des Hausbewohners bei Nacht gehalten wurden. So waren sie vor Diebstahl oder Angriffen geschützt, und in der kalten Jahreszeit diente ihre Körperwärme auch zur Erwärmung des Hauses.
Die Familie lebte und schlief im gleichen Raum auf einem erhöhten, von der Eingangstür abgesetzten Fußboden. Außerdem gab es oft auch ein Gästezimmer, entweder im ersten Stock oder in einem weiteren Zimmer des Erdgeschosses, getrennt vom familiären Aufenthalts- und Schlafzimmer. In der Nähe der Eingangstür fand sich gewöhnlich eine Futterkrippe bzw. Tränke für die Tiere.
Eric F. F. Bishop, der sich mit der nahöstlichen Kultur befasst, ist der Meinung, dass die Geburt Christi wahrscheinlich „in einem der Bethlehemer Häuser stattfand, in denen der untere Teil [des Erdgeschosses] für Tiere vorgesehen war, mit einer ,aus Steinen gefertigten‘ Futterkrippe, und mit einer Empore, die für die Familie vorgesehen war. Die Futterkrippe wäre unbeweglich gewesen und hätte, mit Stroh gefüllt, als Wiege dienen können. Ein Säugling, wenn entsprechend gewickelt, hätte dort in Sicherheit liegen können, sollte die Mutter wegen einer Besorgung kurz außer Haus sein“ (Jesus of Palestine, 1955, Seite 42).
Ein weiterer Experte der nahöstlichen Lebensweise, Gustaf Dalmann, fügt hinzu: „Im heutigen Nahen Osten wohnen Menschen und Tiere oft in dem gleichen Raum. Es ist ganz normal, wenn die Familienmitglieder auf einem erhöhten Fußboden als Empore in dem einen Raum des Hauses leben, essen und schlafen, wo die Tiere, besonders Esel und Rinder, ihren Platz daneben auf dem eigentlichen Fußboden in der Nähe der Tür haben . . . Auf diesem Fußboden findet sich die Futterkrippe, oder sie wird an der Wand befestigt oder am Rand der Empore“ (Sacred Sites and Ways, 1935, Seite 41).
Der Gedanke an einen Esel oder ein Rind im Haus bei Nacht erscheint uns in westlichen Ländern unpassend zu sein. Dazu meint Kenneth Bailey: „Wir im Westen haben entschieden, dass ein Leben mit diesen großen sanften Tieren kulturell inakzeptabel ist. Doch der erhöhte Fußboden, auf dem die Familie aß, schlief und lebte, blieb von den Tieren unbeschmutzt. Sie wurden täglich hinausgeführt, und der untere Fußboden wurde dann gereinigt. Ihre Anwesenheit im Haus war keineswegs anstößig“ (Bailey, Seite 105).
Selbstverständlich wären die Tiere bei einer Geburt auch nicht im Haus gewesen!
Als König Saul das Gesetz Gottes übertrat und ein Medium aufsuchte, hatte die Frau [das Medium] „im Haus ein gemästetes Kalb; das schlachtete sie eilends und nahm Mehl und knetete es und backte ungesäuertes Brot und setzte es Saul und seinen Männern vor“ (1. Samuel 28,24-25). Es waren die reichen Leute, die einen separaten Stall für ihre Tiere hatten, also getrennt vom Haus.
Eine realistischere Sicht der Geburt Christi in Übereinstimmung mit den Bräuchen jener Zeit wäre, dass die Futterkrippe nicht im Stall, sondern in einem Haus war. Ausschließen kann man nicht, dass damit eine Höhle verbunden war, aber nur deshalb, weil manche Häuser über Höhlen errichtet wurden. Doch dies war nicht die Norm.
Die Tradition mit der Höhle mag ihren Ursprung in dem heidnischen Mythos über den persischen Sonnengott Mithras haben, der angeblich in einer Höhle geboren wurde. Damit verknüpft ist die Überzeugung einiger, dass die Geburt Christi in Abgeschiedenheit hätte stattfinden müssen.
Die Puzzleteile richtig anordnen
Das bisher Untersuchte ist recht einleuchtend, doch einen Einwand wollen wir noch behandeln. Manche wenden ein, dass man Maria und Josef keine wahre Gastfreundschaft erwiesen hätte, wenn sie in dem familiären Aufenthaltsraum anstelle des Gästezimmers beherbergt worden wären. Dazu nochmals Kenneth Bailey:
„Kein Mangel an Gastfreundschaft bzw. keine Unfreundlichkeit wird angedeutet, wenn die heilige Familie im Aufenthaltsraum des Hauses beherbergt wird. Das Gästezimmer ist besetzt und vom Gastgeber wird nicht erwartet, dass er seine bereits aufgenommenen Gäste zum Auszug auffordert . . . Das wäre undenkbar und auch nicht notwendig. Der große familiäre Aufenthaltsraum reicht voll aus“ (Seite 104).
Da die Helferinnen während der Geburt diesen Raum gelegentlich verlassen und ihn wieder betreten mussten, wäre es für alle Beteiligten wohl am günstigsten gewesen, wenn sich Maria in dem größeren Raum aufgehalten hätte. Es kann sein, dass Lukas, als er schrieb, dass es „im Gasthaus keinen Platz für sie gab“ (Lukas 2,7; „Neues Leben“-Übersetzung), damit meinte, das Gästezimmer des Hauses war für eine Geburt zu klein.
Kenneth Bailey fährt hinsichtlich der Bedeutung von kataluma als Gästezimmer fort: „Diese Auslegung genügt den sprachlichen Erfordernissen des Textes und den kulturellen Gepflogenheiten der dörflichen Szene. Die Übersetzung [von kataluma in diesem Sinne] ermöglicht ein neues Verständnis der Geschichte der Geburt Jesu. Josef und Maria kommen in Bethlehem an. Sie finden eine Unterkunft bei einer Familie, deren Gästezimmer entweder bereits voll belegt oder zu klein ist. Die Familie nimmt sie in ihrem familiären Aufenthaltsraum auf, wie es damals auf dem Dorf vorgekommen ist. Die Geburt findet dort auf der Empore im Erdgeschoss des Hauses statt und das neugeborene Kind wird in die Krippe gelegt . . .
Dem [nahöstlichen] Leser [des Lukasevangeliums] fällt als Reaktion sofort ein: ,Krippe – oh, sie sind im familiären Aufenthaltsraum. Warum sind sie nicht im Gästezimmer des Hauses?‘ Und der Autor [Lukas] beantwortet ihre Frage: ,Weil es im Gästezimmer keinen Platz für sie gab.‘ Der Leser zieht dann für sich den Schluss: ,Ja, eigentlich wäre der Aufenthaltsraum für eine Geburt geeigneter.‘ Mit der Übersetzung ,Gästezimmer‘ passen alle kulturellen, historischen und sprachlichen Aspekte zusammen“ (Seite 104).
Die Reaktion der Hirten
Ein weiterer Aspekt der Geschichte, der unseren Beitrag bestätigt, sind die Hirten, die von einem Engel über die Geburt des Messias informiert wurden:
„Es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ (Lukas 2,8-11).
Als Hirten gehörten sie zu den unteren Schichten der Gesellschaft, und sie hätten wahrscheinlich gezögert, einen König aufzusuchen. Doch der Engel verriet ihnen ein zusätzliches Detail, das ihnen ihre etwaige Scheu genommen hätte: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“ (Vers 12).
„Das heißt“, schreibt Kenneth Bailey in seinem aufschlussreichen Buch Jesus Through Middle Eastern Eyes: Cultural Studies in the Gospels, „dass sie den Messias in einem einfachen Haus, wie sie es selbst kannten, finden konnten. Er war nicht in einem herrschaftlichen Wohnhaus oder im Gästezimmer eines reichen Kaufmanns untergebracht, sondern in einem einfachen Zwei-Zimmer-Haus, das ihnen vertraut war“ (2008, Seite 35).
Lukas’ Bericht setzt sich fort: „Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten . . . Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war“ (Lukas 2,16-18. 20).
Dazu der Kommentar von Kenneth Bailey: „Das Wort alles schließt offensichtlich auch die Qualität der Gastfreundschaft mit ein, zu deren Zeugen die Hirten wurden. Sie fanden die heilige Familie in einer vollkommen ausreichenden Behausung vor und nicht in einem schmutzigen Stall. Wenn sie bei ihrer Ankunft einen stinkenden Stall, eine verängstigte junge Mutter und einen verzweifelten Josef erlebt hätten, wäre ihre sofortige Reaktion wie folgt gewesen: ,Das ist eine Schande! Kommt mit uns, damit unsere Frauen euch versorgen können!‘
Innerhalb von fünf Minuten hätten die Hirten die kleine Familie zu einem ihrer eigenen Häuser gebracht. Die Ehre des ganzen Dorfs hätte auf dem Spiel gestanden und die Hirten wären ihrer diesbezüglichen Verantwortung gerecht geworden. Dass sie die Unterkunft verließen, ohne die junge Familie woanders einzuquartieren, bedeutet, dass die Hirten ihr keine bessere Gastfreundschaft bieten konnten, als sie sie bereits erlebte“ (Seite 35-36; Hervorhebung des Originals).
Wie sollen wir die Tradition sehen?
Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag dargelegten Sichtweise überlegen wir, wie wir die traditionelle weihnachtliche Geburtsszene Jesu beurteilen sollen.
Zunächst stellen wir die Frage, warum man die Geburt Jesu seit Jahrhunderten so dargestellt hat, als hätte sie im Stall bzw. in einer Höhle oder gar außerhalb des Dorfs stattgefunden, ohne Helfer aus der Nachbarschaft.
Kenneth Bailey spekuliert: „Beim Lesen einer Vielzahl der Schriften der arabischen und syrischen Väter zu diesem Thema gewinnt man den Eindruck, dass es einen unausgesprochenen subjektiven Druck gab, die Geburt aufgrund deren Heiligkeit ohne die Anwesenheit von Zeugen verstehen zu wollen, weil die ,Mutter Gottes‘ den ,Sohn Gottes‘ gebar.
In ähnlicher Weise, wie die Sakramente hinter dem abschirmenden Altar geweiht werden, damit sogar die Augen der Gläubigen das heilige Ereignis nicht sehen, scheinen die nahöstliche Christologie, die Mariologie und die Frömmigkeit zusammenzuwirken, um darauf zu bestehen, dass die Geburt dort stattfand, wo kein Auge das göttliche Mysterium wahrnehmen konnte“ (The Manger and the Inn, Seite 105).
Doch das ist reine Fiktion, die der alten heidnischen Mysterienreligion entlehnt ist! Wie in diesem Beitrag geschildert, sah die Realität ganz anders aus. Jesus wurde zwar von Gott, dem Vater, durch die Kraft des heiligen Geistes gezeugt, doch seine Geburt war wie die eines gewöhnlichen Menschen.
Hinsichtlich der überlieferten Tradition meint Kenneth Bailey: „Wir alle sind von dem enormen Gewicht kirchlicher Tradition mit ihrer ,kein Raum in der Herberge‘-Mythologie umgeben. Stimmen unsere Schlussfolgerungen, dann müssen wir uns von Tausenden guter Weihnachtspredigten, Aufführungen, Filmen, Gedichten, Liedern und Büchern verabschieden. Ist aber der traditionelle Mythos einer einsamen Geburt hilfreich oder ein Hindernis, wenn es um die im Text verkündete Realität geht? Ein authentischeres kulturelles Verständnis mindert nicht die Bedeutung der Erzählung, sondern bereichert sie.
Jesus wurde bei seiner Geburt von Herodes abgelehnt, aber die Hirten in Bethlehem empfingen ihn mit großer Freude . . . Die Heimat Davids war seinem Sohn treu, und die Gemeinde sorgte für ihn. Er wurde unter ihnen in der dörflichen Umgebung geboren, wie es bei jedem anderen Jungen der Fall war – umgeben von ausgestreckten Händen und den ermutigenden Worten der Helferinnen.
Jahrhundertelang wurden palästinensische Kinder auf dem erhöhten Fußboden des familiären Aufenthaltsraums kleiner Häuser geboren. Die Geburt Jesu war nicht anders. Sie war kulturell authentisch und fand dort statt, wo ein Kind aus bäuerlichen Verhältnissen auf die Welt kam – in einem bäuerlichen Haus“ (Seite 105-106).
Seien wir dankbar, dass wir den biblischen Text ohne die unerkannten Vorurteile religiöser Traditionen untersuchen können und deshalb einen biblischen Text nicht total kulturell entfremdet interpretieren müssen, nur um weihnachtliche Traditionen zu bewahren.
Beherzigen wir stets das Beispiel der Juden zu Beröa, die die Botschaft des Apostels Paulus mit einem offenen Sinn empfingen: „Diese aber waren freundlicher als die in Thessalonich; sie nahmen das Wort bereitwillig auf und forschten täglich in der Schrift, ob sich’s so verhielte“ (Apostelgeschichte 17,11; Hervorhebung durch uns).