Allgemein gehen Christen davon aus, daß Jesus in Kapitel 7 des Markusevangeliums die Speisegebote des Alten Testaments aufgehoben hat. Wie sind Jesu Worte richtig zu verstehen?
Von Larry Walker
In dieser Artikelserie haben wir Aussagen Jesu Christi untersucht, die eine überraschend andere Bedeutung haben, als allgemein angenommen wird. In bezug auf die Speisegebote der Bibel liegt die Überraschung vielleicht nicht so sehr in den Worten, die Jesus im Markusevangelium gesagt hat, sondern darin, was er nicht gesagt hat.
Die meisten Christen nehmen an, daß Jesus bei seinem Zusammentreffen mit den Pharisäern in Markus 7, Verse 1-23 die Speisegebote von 3. Mose 11 und 5. Mose 14 aufgehoben hat. Tatsächlich fügen viele moderne Übersetzungen des Neuen Testaments Worte zu Markus 7, Vers 19 hinzu, die diese Meinung verstärken. So heißt es zum Schluß dieses Verses in der Lutherbibel von 1984: „Damit erklärte er alle Speisen für rein.“ Ist diese Textvariante aber richtig? Was hat Jesus mit seiner Aussage wirklich gemeint?
Die Antwort liegt im Kontext
Ein grundlegendes Prinzip zum Verständnis von Schriftstellen ist die Untersuchung des Kontextes. In welchem Zusammenhang wird die Schriftstelle erwähnt? In diesem Fall wird über Speisen nur im allgemeinen geredet und nicht darum, welche Fleischsorten rein oder unrein sind. Das griechische Wort broma, das in Vers 19 benutzt wird, bedeutet einfach nur Speise. Ein ganz anderes griechisches Wort, kreas, wird im Neuen Testament benutzt, wenn Fleisch von Tieren gemeint ist (siehe Römer 14,21 bzw. 1. Korinther 13,8). In diesem Textabschnitt geht es also um das Thema Speise und nicht um Fleisch. Bei genauerer Untersuchung stellt man jedoch fest, daß es hier vordergründig um etwas anderes geht.
Die ersten zwei Verse helfen uns, den Kontext zu verstehen: „Und es versammelten sich bei ihm die Pharisäer und einige von den Schriftgelehrten, die aus Jerusalem gekommen waren. Und sie sahen einige seiner Jünger mit unreinen, das heißt: ungewaschenen Händen das Brot essen“ (Markus 7,1-2). Sie fragten Jesus: „Warum leben deine Jünger nicht nach der Überlieferung der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen?“ (Vers 5; Elberfelder Bibel).
Die Pharisäer kritisierten also das Essen „mit ungewaschenen Händen“. Warum waren die Schriftgelehrten und Pharisäer darum so sehr besorgt?
Der Bund, den Gott mit Israel am Berg Sinai schloß, basierte auf vielen Gesetzen und Anweisungen, die der rituellen Reinheit dienten. Die Juden gingen aber darüber hinaus und hielten sich auch an die mündlichen Überlieferungen bzw. Traditionen oder „Satzungen der Ältesten“. Diese enthielten viele zusätzlich von Menschen ausgedachte Anforderungen und Verbote, die Gottes Gesetz „ergänzen“ sollten. Die Verse 3-7 in Markus 7 erklären die besonderen Praktiken der Pharisäer und Schriftgelehrten: „Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, wenn sie sich nicht sorgfältig die Hände gewaschen haben, indem sie die Überlieferung der Ältesten festhalten“ (Elberfelder Bibel).
Es ging hier eigentlich gar nicht um die Speisegesetze, sondern um die rituelle Reinheit, die in diesem Fallbeispiel auf religiösen Traditionen aus den mündlichen Überlieferungen basierte. Die Jünger wurden kritisiert, das zeremonielle Händewaschen gemäß den religiösen Traditionen nicht richtig zu praktizieren.
Der Kommentar zum jüdischen Neuen Testament liefert folgende Erklärung für die Verse 2 bis 4: „Markus’ Erläuterung der ... rituellen Reinigung der Hände in diesen Versen entspricht den Einzelheiten, die im Mischna-Traktat Jadajim niedergelegt sind. [Die Mischna ist eine spätere schriftliche Version religionsgesetzlicher Überlieferungen des rabbinischen Judentums.] Auf dem Marktplatz z. B. hatte ein Jude möglicherweise unreine Gegenstände berührt; um diese Unreinheit zu beseitigen, wusch er sich die Hände bis zu den Gelenken hinauf. Orthodoxe Juden befolgen [die rituelle Reinigung der Hände] noch heute vor den Mahlzeiten. Der Grund dafür hat nichts mit Hygiene zu tun, sondern mit der Vorstellung, daß ,das Haus eines Mannes sein Tempel ist‘, der Eßtisch der Altar in diesem Tempel, die Speise das Opfer und er selbst der Kohen (Priester). Da die Tenach [Altes Testament] vorschreibt, daß die Kohanim [Priester] zeremoniell rein sein müssen, bevor sie Opfer auf dem Tempelaltar darbringen, verlangt die mündliche Thorah dasselbe vor dem Einnehmen einer Mahlzeit“ (David Stern, 1996).
Zur Zeit Jesu Christi hatten manche dieser zusätzlichen Praktiken oberste Priorität eingenommen. Dabei traten die grundlegenden Prinzipien des universellen Gesetzes Gottes manchmal in den Hintergrund oder wurden sogar verletzt (Matthäus 23,1-4. 23-28).
Geistliches Prinzip der Reinigung
Nachdem Jesus die Scheinheiligkeit dieser und anderer religiöser Traditionen und Praktiken seiner Zeit angeprangert hatte, ging er noch konkreter auf die Frage der Unreinheit ein. Er erklärte, daß nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn unrein machen kann, sondern nur das, was von innen herauskommt, macht den Menschen unrein (Vers 15).
Jesus zufolge ist das viel wichtiger, was aus dem Herzen kommt, als das, was man in den Mund steckt: „Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen heraus böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Mißgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft. Alle diese bösen Dinge kommen von innen heraus und machen den Menschen unrein“ (Markus 7,21-23).
Einige dieser Eigenschaften werden in Galater 5, Verse 19-21 als „Werke des Fleisches“ aufgezählt. Ihnen wird die „Frucht des Geistes“ (Verse 22-23) gegenübergestellt. „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Elberfelder Bibel) sind Eigenschaften eines reinen Herzens.
Die zeremoniellen Waschungen des Alten Bundes waren ein physisches Sinnbild für die geistliche Reinigung, die im Neuen Bund möglich ist (Hebräer 9,11-14). In Hebräer 9, Vers 23 lesen wir: „So also mußten die Abbilder der himmlischen Dinge [ein Hinweis auf die Stiftshütte, den Altar, die Priester usw.] gereinigt werden [durch äußerliche Reinheitsvorschriften]; die himmlischen Dinge selbst aber müssen bessere Opfer haben als jene.“ Der Apostel Paulus schreibt, daß Jesus „sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken“ (Titus 2,14).
„Selig sind, die reinen Herzens sind“ ist eine Hauptlehre Christi (Matthäus 5,8).
Ungewaschene Hände verunreinigen das Herz nicht
In Markus 7 erklärte Jesus, daß rituelle Waschungen für die geistliche Reinheit bzw. Gesundheit nicht notwendig sind. Er wies darauf hin, „daß alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht unrein machen kann. Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und kommt heraus in die Grube. Damit erklärte er alle Speisen für rein“ (Verse 18-19; alle Hervorhebungen durch uns).
Dieser Wortlaut aus der Lutherbibel von 1984, der kein Zitat Jesu, sondern ein zusätzlicher Kommentar über die Worte Jesu sein soll, steht im starken Kontrast zur ursprünglichen Übersetzung des großen Reformators. Luther hatte Vers 19 ursprünglich wie folgt übersetzt: „Denn es gehet nicht in sein Herz, sondern in den Bauch und geht aus durch den natürlichen Gang, der alle Speise ausfeget.“ Auch die Übersetzung von Franz Eugen Schlachter enthält einen ähnlichen Wortlaut: „Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch und wird auf dem natürlichen Wege, der alle Speisen reinigt, ausgeschieden.“
Andere Übersetzungen und die letzte Revision des Luthertextes hingegen enthalten die fragliche Feststellung, Jesus habe alle Speisen für rein erklärt. Die Feststellung ist an sich widersprüchlich, denn der Bibel zufolge sind unreine Tiere keine Speisen! Wie kann Jesus etwas, das ohnehin keine Speise war, zur Speise erklären?
Bei dem sehr unterschiedlichen Wortlaut dieses Verses in früheren bzw. späteren Übersetzungen könnte man meinen, daß unterschiedliche Manuskripte benutzt wurden. Diese Annahme ist richtig. Die ersten Übersetzungen des Neuen Testamentes in heutige Sprachen – Deutsch, Englisch usw. – wurden allgemein in dem gleichen Zeitraum wie die Arbeit Martin Luthers angefertigt und beruhten auf dem traditionellen griechischen Text der griechisch sprechenden Kirche. Diesen Text nennt man Textus Receptus.
Im vergangenen Jahrhundert behaupteten die Gelehrten B. Wescott und F. Hort, der Textus Receptus sei im 4. Jahrhundert n. Chr. von der Kirche überarbeitet worden und stelle daher nicht den ursprünglichen Text dar. Diese Theorie gewann schnell an Beliebtheit, mußte aber wegen eines totalen Mangels an geschichtlichen Beweisen revidiert werden. Heute ist die Sichtweise weit verbreitet, daß der byzantinische Text, der den Wortlaut des Textus Receptus weitgehend bestätigt, bei einer Untersuchung fraglicher Texte die gleiche Gewichtung erhalten soll wie der alexandrinische Text oder andere Texte.
Seit ca. 100 Jahren wurde bei neuen Übersetzungen des Neuen Testamentes immer mehr auf verhältnismäßig wenige Manuskripte zurückgegriffen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden. Es sind hauptsächlich zwei Manuskripte, die aufgrund ihres höheren Alters im Vergleich zu dem Textus Receptus herangezogen werden: Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus. Der griechische Text, der mit diesen Manuskripten und anderen Papyri zusammengestellt wird, ist als der alexandrinische Text bekannt. Auf ihn geht der geänderte Wortlaut von Markus 7, Vers 19 zurück. Es gibt jedoch Gelehrte, die die Zuverlässigkeit von Vaticanus und Sinaiticus in Frage stellen, weil sie oft nicht miteinander übereinstimmen. Hinzu kommt, daß der Sinaiticus beträchtliche Auslassungen aufweist.
Wichtiges Zeugnis von Petrus
Gibt es einen internen Beweis in der Bibel, daß der Zusatz „damit erklärte er alle Speisen für rein“ in Markus 7, Vers 19 eine falsche Interpretation ist? Ja, ihn gibt es. Die Bibel berichtet von einem wichtigen Ereignis im Leben des Apostels Petrus, das ca. zehn Jahre nach dem Tod und der Auferstehung Jesu stattgefunden hat. Petrus war eine zentrale Figur in der frühen Kirchengemeinde. Man kann also sicher davon ausgehen, daß Petrus von so etwas Wichtigem wie einer Änderung der Speisegesetze durch Jesus gewußt hätte. Und doch antwortete er spontan auf die Stimme, die ihm in einer Vision von unreinen Tieren auftrug, sie zu schlachten und zu essen: „O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen“ (Apostelgeschichte 10,14).
Ironischerweise meinen viele, die Absicht dieser Vision sei es gewesen, die biblischen Speisegebote aufzuheben. Wenn Jesus die Speisegebote bereits ca. zehn Jahre zuvor aufgehoben hätte, wäre diese Vision völlig überflüssig. Wichtig ist die Bedeutung von Petrus’ spontaner Reaktion. Ganz offensichtlich hielt er diese Gebote noch für gültig, obwohl er dabei gewesen war, als Jesus in Markus 7 angeblich alle Speisen für rein erklärte.
Dreimal hatte Petrus diese seltsame Vision. Petrus aber rätselte, „was die Erscheinung bedeute, die er gesehen hatte“ (Verse 16-17), und „sann über die Erscheinung nach“ (Vers 19). Petrus kam nicht zum gleichen Schluß wie so viele Christen heute. Später offenbarte Gott ihm die wahre Bedeutung: „Gott hat mir gezeigt, daß ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll“ (Vers 28).
Petrus erkannte, daß Gott den Weg der Erlösung für Heiden (Nichtisraeliten) öffnete. Kurze Zeit später taufte er die ersten unbeschnittenen Heiden in die Kirche hinein (Verse 34-35, 45-48). Petrus aß niemals unreine Tiere, und er lernte diese wichtige Lektion im Erlösungsplan Gottes für die Menschen.
Lehren für uns heute
Wahre Gerechtigkeit und die biblischen Speisegebote schließen sich nicht gegenseitig aus. Der Schöpfer aller Lebewesen hatte gute Gründe dafür, den Verzehr bestimmter Tierarten zu untersagen. Zur wahren Gerechtigkeit gehören Treue und Gehorsam gegenüber dem ganzen Wort Gottes (Psalm 119,172; Matthäus 4,4; 5,17-19).