„Es ist nie zuvor passiert, und es wird wahrscheinlich nie wieder passieren. Kein technisches Problem ist jemals so weit verbreitet, so teuer oder von einem so großen Schadenspotential gewesen als das mögliche Versagen vieler Computersysteme bei der Unterscheidung zweier Daten in diesem und im nächsten Jahrhundert.“
– The Economist
Von John Ross Schroeder und Paul Kieffer
In der Geschichte der letzten zwei Jahrtausende haben Jahrhundertwechsel eine besondere Wirkung auf die Menschen gehabt. Der Autor Hillel Schwartz hat die Auswirkung des Endes eines Jahrhunderts auf die menschliche Psyche untersucht. Er stellte fest, daß eine Art Hysterie einsetzen kann, wenn sich ein Jahrhundert seinem Ende nähert. Am Ende vergangener Jahrhunderte haben Voraussagen für das jeweils bevorstehende Jahrhundert unterschiedliche Szenarien beschrieben. Dabei sollte die Welt entweder in einer Reihe von Katastrophen enden oder eine positive Umgestaltung erfahren. Von besonderem Interesse ist das Ende eines Jahrhunderts, in dem ein Jahrtausend nach unserer Zeitrechnung zu Ende geht.
Wenn man dem deutschen Mönch Tritheim des 15. Jahrhunderts Glauben schenken kann, traf eine Art millennialen Wahnsinns Europa: „Im tausendsten Jahr nach der Geburt Christi erschütterten mächtige Erdbeben ganz Europa und zerstörten auf dem ganzen Kontinent solide und prächtige Bauten. In demselben Jahr erschien ein schrecklicher Komet am Himmel. Als [die Menschen] ihn sahen, erstarrten viele vor Furcht, die glaubten, daß dieser das Jüngste Gericht ankündige“ (Yuri Rubinski und Ian Wiseman, A History of the End of the World [„Eine Geschichte vom Ende der Welt“], Seite 66).
Die Beschäftigung mit himmlischen Zeichen mag seine Auswirkung auf den damaligen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gehabt haben. Es wird berichtet, daß Otto III. gesagt habe: „Das letzte Jahr der tausend Jahre ist da, und jetzt gehe ich hinaus in die Wüste, um mit Fasten, Beten und Buße den Tag des Herrn und das Kommen meines Erlösers zu erwarten“ (Hillel Schwartz, Century’s End [„Ende des Jahrhunderts“], Seite 13).
Y2K – Symbol eines Jahrtausendwechsels
Ob Sie der Meinung sind, daß das 20. Jahrhundert sofort nach Schlag Mitternacht am 31. Dezember 1999 oder erst ein Jahr später endet, das „Y2K“-Problem“ schafft auf seine Art in der Silvesternacht am Ende dieses Jahres einen Jahrtausendwechsel. Das international gebräuchliche Kürzel „Y2K“ („Y“ für „year“ [Jahr], „K“ für Kilo bzw. Tausend) steht für „Jahr 2000“. Bei diesem Problem geht es weltweit um die Fähigkeit von Computersystemen, den Datumssprung vom 31. Dezember 1999 auf den 1. Januar 2000 richtig auszuwerten. Seit Monaten warnen Experten vor der Möglichkeit, daß ältere Systeme den 1. Januar 2000 als den ersten Tag des Jahres 1900 mißverstehen werden. Ihre Warnungen haben, anscheinend wie vor 1000 Jahren, in vielen Kreisen eine Art Hysterie ausgelöst.
Wenn datumsabhängige Steuerungssysteme das neue Jahr wirklich als das Jahr 1900 interpretieren, können sie „verrückt“ spielen und die von ihnen gesteuerten Anlagen abschalten. Betroffen wären alle möglichen computerabhängigen Systeme: Finanzinstitutionen, Verkehrsbetriebe, Stadtwerke usw. Auf der anderen Seite sehen wieder andere eine größere Gefahr in den möglichen Auswirkungen panikartigen Verhaltens beunruhigter Menschen unmittelbar vor und nach der Jahreswende. So plant die US-Notenbank die Bereitstellung von 50 Milliarden US-Dollar als zusätzliches Bargeld, falls aufgeschreckte Amerikaner ihre Sparkonten vor Jahresende plündern sollten. Auch Monate im voraus trafen besorgte Bürger auf ihre Weise Vorkehrungen für die Jahreswende. Nach einem im Frühjahr veröffentlichten Bericht der New York Times sollen zehn Prozent der führenden Konzernchefs Amerikas Lebensmittelvorräte zurückgelegt und Notstromgeneratoren bestellt haben.
In Wirklichkeit weiß niemand genau, ob und in welchem Ausmaß das Y2K-Problem eintreten wird. Ein anderes kritisches Datum – der 9. September 1999 (9.9.99) –, von dem man befürchtete, etliche Softwareprogramme würden es als „Abschaltbefehl“ lesen, fand ereignislos statt. Auch die von einigen befürchtete Datumsumschaltung des „Global Positioning System“, eines globalen, von 24 stationären Satelliten gesteuerten Ortungssystems des US-Verteidigungsministeriums, das aber auch von der zivilen Luft- und Schiffahrt benutzt wird, klappte in der zweiten Augusthälfte reibungslos. Aufgrund solcher Erfolge blicken einige dem Jahreswechsel ohne Sorge entgegen. Weitere Kommentare dazu finden Sie in dem Rahmenartikel auf der nächsten Seite „Das ,Jahr-2000-Problem‘: eine Zeitbombe?“.
Finanzielle Interessen überwiegen
Der Ursprung des Y2K-Problems hatte mit handfesten finanziellen Interessen zu tun. Interessanterweise sind finanzielle Interessen auch ausschlaggebend bei den Bemühungen um die Lösung des Problems. Sie werden dafür sorgen, daß die technischen Aspekte von Y2K doch geregelt werden.
In der digitalen Steinzeit der 50er Jahre war der Datumswechsel zum Jahr 2000 keine Überlegung der ersten Programmierer. Der verfügbare Platz auf den damaligen Datenträgern – Lochkarten – war sehr begrenzt. Daher versahen IBM-Wissenschaftler wie Grace Murray Hopper und Robert Bremer die Computersprache Cobol mit einer zweistelligen Jahresangabe (z. B. „60“ statt „1960“). Aus heutiger Sicht mit unseren viel preisgünstigeren Datenträgern und Memory-Chips ist man schnell versucht, den Computerfachleuten der ersten Generation Kurzsichtigkeit vorzuhalten. Ihre damaligen Entscheidungen gründeten sich jedoch auf für jene Zeit verständliche ökonomische Zwänge: Millionen von Daten mit einer zweistelligen Jahresangabe zu speichern und zu verarbeiten war bedeutend billiger.
Bei der Lösung des Problems sind wieder finanzielle Interessen vordergründig. Dabei geht es nicht primär um Unannehmlichkeiten wie Flug- oder Zugverspätungen, sondern um Millionen von Arbeitsplätzen, die durch länger anhaltende Y2K-Störungen betroffen wären. Mit anderen Worten: Durch die Milliardenbeträge, die weltweit in die Y2K-Sicherung bestehender Computersysteme investiert werden, soll der Weltwirtschaft ein schwarzer Januar erspart werden. Der New Yorker Bezirksdirektor der US-Notenbank William McDonough ist der Überzeugung, daß eine erfolgreiche Datumsumstellung „für Konzerne und ganze Märkte eine Frage des Überlebens ist“. Der Selbsterhaltungsdrang des Menschen wird also die Lösung von Y2K sichern, auch wenn man mit vorübergehenden Störungen in den Entwicklungsländern rechnen muß.
Ethik, nicht Technik, als Problem
Der Mensch als Krönung der physischen Schöpfung verfügt über erstaunliche kreative Fähigkeiten. Die in diesem Jahrhundert erzielten Fortschritte auf allen Gebieten der Naturwissenschaften und der Technik sind atemberaubend. Kein technisches Problem scheint auf Dauer unlösbar zu sein. Auch das Y2K-Problem wird gelöst, davon ist die Zeitschrift Gute Nachrichten überzeugt.
Ethische Fragen bereiten der Menschheit viel größere Schwierigkeiten als die Lösung schwieriger technischer Probleme. Der Mensch hat nicht die moralische Kraft, seine technischen Fähigkeiten ausschließlich zum Wohle seiner Mitmenschen einzusetzen. Die Atomkraft wird z. B. nicht nur zur Stromerzeugung eingesetzt, sie wird auch zur Herstellung atomarer Sprengköpfe benutzt. Ein Großteil der Forschung in der Technik ist militärischen Zwecken gewidmet, und es hat noch keine Waffe gegeben, die man entwickeln konnte, die nicht eingesetzt wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge vieler Menschen über die heutige Genforschung und den zukünftigen Einsatz dieser Technologie berechtigt.
In ein paar Jahren wird niemand mehr an das Y2K-Problem denken. Die fehlende moralische Kraft des Menschen beim Umgang mit der Technik wird hingegen weiterhin ein Problem sein, das uns immer wieder plagen und erst nach der Rückkehr Christi gelöst werden wird.
Das „Jahr-2000-Problem“: eine Zeitbombe?
Die Spekulationen über den Verlauf der Dinge am 1. Januar 2000 und an den Tagen danach gehen sehr weit auseinander. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit einem möglichen Zusammenbruch des Finanz- bzw. Transportsystems und der Wasser- und Stromversorgung rechnen. Ihnen stehen andere Experten gegenüber, die jetzt schon eine Lösung des Problems vor der Jahreswende proklamieren.
Die „Gartner Group“ in den USA gehört hinsichtlich der Y2K-Forschung weltweit zu den führenden Firmen. 1998 befragte die Gartner-Gruppe 15 000 Firmen in 81 Ländern und stellte dabei folgendes fest:
• Überall in der Welt wird es Regierungen und Firmen geben, die ihre Y2K-Probleme bis zum 1. Januar 2000 nicht gelöst haben werden.
• In den USA halten Wirtschaftsbranchen wie die Gesundheitsversorgung, das Erziehungswesen, die Land- und die Bauwirtschaft, die Lebensmittelindustrie und Firmen mit weniger als 500 Angestellten die Termine für die Beseitigung des Problems nicht konsequent ein.
• Die Länder, die unter hoher Inflation, mangelnden Währungsrücklagen und hoher Arbeitslosigkeit leiden, gehören auch zu den Ländern, denen das Y2K-Problem mit der größten Wahrscheinlichkeit große Schwierigkeiten bereiten wird.
• Das Hauptrisiko für die größte Binnenwirtschaft der Welt, die der USA, rührt von Regierungen und Firmen außerhalb der Landesgrenzen her. Edward Yardeni, Chefökonom der internationalen Investment-Firma Deutsche Morgan Grenfel, sieht deshalb eine 70prozentige Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften globalen Rezession voraus: „Selbst wenn alles in den USA ohne Unterbrechung weiterläuft, es aber größere Probleme in Europa und das totale Chaos in Asien und Lateinamerika gibt, werden die USA davon in beträchtlicher Weise betroffen werden“ (Washington Times).
• Auch wenn keine ernsthaften Y2K-Probleme eintreten, können panikartige Abhebungen beunruhigter Bankkunden die Stabilität des Finanzsystems gefährden.
Solche Warnungen scheinen durch die Pannen, die bei Jahr-2000-Tests vorgekommen sind, nur bestätigt zu werden. Überall in den westlichen Industrieländern proben Regierungen, Städteverwaltungen und Großfirmen für den Ernstfall, der in der Silvesternacht Wirklichkeit wird. So gab die EDV-Leitung eines Chrysler-Werkes in den USA das Datum 1. Januar 2000 für ihre Rechner vor. Dabei sperrten sich die computergesteuerten Werkstore stundenlang zu.
Auf der anderen Seite sehen viele Experten in solchen Tests, auch wenn sie vorerst fehlschlagen, den Grund für ihren Optimismus gegenüber der Silvesternacht. Bis dahin werden die kritischen Computersysteme überprüft worden sein, zu dem großen Computer-Chaos wird es nach ihrer Meinung nicht kommen. Dabei verweisen sie auf beachtliche Erfolge, die in den Nachrichtenmedien bereits gemeldet wurden:
• Die Computersysteme der großen US-amerikanischen Ministerien, einschließlich des Verteidigungs- und des Verkehrsministeriums, gelten bereits seit Mitte des Sommers als Y2K-tauglich.
• Die Reservierungssysteme der großen Luftfahrtgesellschaften westlicher Länder wurden mit Erfolg für das Jahr 2000 getestet. Die Flugsteuerungssysteme auf internationalen Strecken im Westen sollen bis zur Jahreswende Y2K-sicher sein.
• Das internationale Transfersystem für Banküberweisungen wurde vor einigen Monaten erfolgreich getestet.
• Die Systeme der bedeutendsten Aktienmärkte der Welt, London-Frankfurt und New York, sind bereits Y2K-tauglich.
Den Y2K-Pessimisten stehen namhafte Optimisten gegenüber. In einer Rede am 22. September 1999 drückte US-Notenbankchef Alan Greenspan seine Überzeugung aus, das Jahr-2000-Problem sei für die Wirtschaft der USA keine Gefahr mehr: „Vor dem Hintergrund umfangreicher Tests, bereits installierter Notersatzsysteme und der großen Anpassungsfähigkeit und der Findigkeit des amerikanischen Arbeitnehmers gibt es nun keine nennenswerte Gefahr mehr von mehrfachen, gegenseitig ausgelösten Computerausfällen in für die Wirtschaft kritischen Systemen.“ Die größere Gefahr für die Wirtschaft, so Greenspan, sei durch Hamsterkäufe beunruhigter und schlecht informierter Kunden zu erwarten.
Auch der renommierte Finanzguru für private Anleger in den USA, Warren Buffett, kommentierte die Wahrscheinlichkeit von Y2K-Störungen: „Ich wäre der letzte Mensch auf Erden, wenn es um das Verständnis von Y2K geht. Aber meine intelligentesten Freunde sind alle der Überzeugung, daß es kein großes Ereignis sein wird.“
Selbst der einstige IBM-Mann Peter de Jager, der in den 70er Jahren seine Chefs bei IBM auf das Problem hinwies und dessen spätere Warnungen Y2K ins öffentliche Bewußtsein rückte, ist jetzt der Meinung, das Problem sei praktisch gelöst: Die westlichen Industrieländer hätten ihre wichtigsten Rechner geprüft und entsprechend nachgerüstet. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller meinte, er würde auch zum Jahreswechsel fliegen, so gering sei die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Probleme.
Was passiert wirklich bei dem Datumssprung zum Jahresende? Keiner weiß es genau. Die Zeitschrift Gute Nachrichten teilt aber die Meinung der britischen Zeitschrift The Economist, die in ihrer Ausgabe vom 19. September 1998 „Irritationen, aber keine Katastrophe“ voraussagte. Vorkehrungen für ein paar Tage nach dem Jahreswechsel – wie bei einem herannahenden schweren Sturm im Winter – sind bestimmt ratsam, Panik- und Hamsterkäufe hingegen völlig unnötig.