Ist der biblische Bericht über die Eroberung Jerichos zuverlässig? Im vergangenen Jahrhundert lösten Ausgrabungen in Jericho eine lebhafte Debatte über die Zuverlässigkeit der Bibel aus.
Von Mario Seiglie
In den bisherigen Beiträgen dieser Artikelreihe wurden archäologische Funde besprochen, die zum Verständnis der ersten fünf Bücher der Bibel beitragen. Entdeckungen, die das Buch Josua in neuem Licht erscheinen lassen, sind Gegenstand dieses Artikels. Thema ist die Einnahme des Gelobten Landes.
Nach einer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste durften die Israeliten endlich den Fluss Jordan überqueren und in das Gelobte Land einziehen. Mose stand kurz vor seinem Tod, als Gott ihm befahl: „Und der Herr sprach zu Mose: Siehe, deine Zeit ist herbeigekommen, dass du sterben musst. Rufe Josua, und tretet hin zur Stiftshütte, dass ich ihm Befehl gebe“ (5. Mose 31,14).
Moses Diener Josua wurde als sein Nachfolger eingesetzt, und Mose starb auf dem Berg Nebo (5. Mose 34,1. 5). Damit beginnt die Geschichte der Eroberung Kanaans durch die Israeliten.
Umstrittene Daten um Jericho
„Jericho aber war verschlossen und verwahrt vor den Israeliten, sodass niemand heraus- oder hineinkommen konnte“ (Josua 6,1).
Die erste Stadt, auf die die Israeliten stießen, war Jericho. Nach den Erkenntnissen archäologischer Ausgrabungen ist es eine der ältesten Siedlungen der Welt. Die Frage, die uns jedoch bewegt, lautet: Wie zuverlässig ist die biblische Geschichte der Vernichtung Jerichos?
Nach verschiedenen größeren archäologischen Ausgrabungen im vergangenen Jahrhundert an der Stätte des alten Jericho sorgte diese Frage im Bereich der Wissenschaft für einen lebhaften Streit.
Die erste umfangreiche Ausgrabung Jerichos mit modernen Methoden wurde von dem britischen Archäologen John Garstang in den 1930er Jahren geleitet. Nach sechsjähriger Arbeit vor Ort wusste er Folgendes zu berichten:
„Was die materiellen Ergebnisse und die zeitliche Einordnung betrifft, so geschah die Zerstörung Jerichos, wie sie in der Bibel beschrieben ist. Unsere Beweise beschränken sich hierbei auf das, was heute noch erkennbar ist: Anscheinend stürzten die Mauern ca. 1400 v. Chr. durch ein Erdbeben ein, und die Stadt selbst wurde durch ein Feuer zerstört“ („Jericho and the Biblical Story“, Wonders of the Past, Wise, New York, 1937, Seite 1222).
In den 1950er Jahren stellte die Archäologin Kathleen Kenyon, eine Landsmännin Garstangs, die Thesen ihres Kollegen in Frage. Nach ihrer Meinung fand die Vernichtung Jerichos 150 Jahre vor der Zeit Josuas statt. Als Josua lebte, habe es kein Jericho mehr gegeben. Diese Ansicht wurde gerne von Wissenschaftlern aufgegriffen, in deren Augen die Geschichten der Bibel Märchen sind.
Wie der Archäologe und Fachmann für die Untersuchung bzw. Auswertung alter Tongefäße, Bryant Wood, feststellte: „Die Gelehrten haben den biblischen Bericht im Großen und Ganzen als eine Mischung aus Märchen und frommer Propaganda abgeschrieben. Seit 25 Jahren herrscht diese Meinung vor“ (Biblical Archaeology Review, März-April 1990, Seite 49).
Umstrittene Auslegung der Ergebnisse
Leider starb Kathleen Kenyon, bevor sie ihre Ergebnisse veröffentlichen konnte. Damit erschwerte sich eine zuverlässige Auswertung ihrer Berichte. Aber fünfzehn Jahre nach ihrem Tod wurden ihre Aufzeichnungen von Bryant Wood untersucht und herausgegeben.
Nachdem Wood die Berichte Kenyons unter die Lupe genommen und auch neuere Forschungsergebnisse berücksichtigt hatte, kam er zu dem Schluss, Kenyon habe sich bei der zeitlichen Einordnung der Vernichtung Jerichos gründlich geirrt. Für ihn ergab sich eine enge Übereinstimmung zwischen den archäologischen Funden und dem Bericht der Bibel.
Was führte zu dieser Wende?
Die erste Ursache war ein Werkzeug, das es zu Lebzeiten Kenyons noch nicht gab – die Altersbestimmung durch Kohlenstoff-14. Als ein verkohlter Gegenstand aus der verbrannten Stadt mit der Radiokarbonmethode – die eine zuverlässige Altersbestimmung bis zu viertausend Jahren ermittelt – untersucht wurde, datierte man seine Verbrennung auf das Jahr 1410 v. Chr. Das entspricht sehr genau dem Zeitpunkt, zu dem nach der biblischen Chronologie Jericho eingenommen und niedergebrannt wurde.
(Wir lesen in 1. Könige 6, Vers 1 davon, dass die Einweihung des Tempels Salomos 480 Jahre nach dem Auszug aus Ägypten stattfand. Somit wird der Auszug aus Ägypten um 1443 v. Chr. stattgefunden haben. Der Einzug ins Gelobte Land folgte vierzig Jahre später, also nach biblischen Angaben um 1403 v. Chr.)
Für die Einäscherung der Stadt fand Kenyon reichlich Beweismaterial: eine Schicht aus Asche und verbranntem Schutt mit einer Dicke von einem Meter. In einem Bericht schrieb sie: „Die Vernichtung war total. Mauern, Wände und Fußböden waren durch die Einwirkung des Feuers schwarz oder rot geworden . . . In den meisten Räumen waren auch die Trümmer verbrannt“ („Excavations at Jericho“, Palestinian Exploration Quarterly, 1955, Seite 370).
Man vergleiche diese Beschreibung mit der Aussage der Bibel in Josua 6, Vers 24: „[Die] Stadt verbrannten sie [die Israeliten] mit Feuer, und alles, was darin war . . . “
Aufschlussreich erschienen drei ägyptische Amulette (in Käfergestalt), die auf einem Friedhof innerhalb der Stadt gefunden wurden. Sie trugen die Namen von drei Pharaonen, die von 1500-1380 v. Chr. herrschten. Allein durch diesen Fund ist die These Kenyons eindeutig widerlegt, die Stadt sei schon um 1550 v. Chr. verlassen worden.
Bestätigung biblischer Angaben
Weitere Bestätigung erfuhr die Bibel durch eine ungewöhnlich hohe Menge an gelagertem Getreide innerhalb der Ruinen Jerichos. „Von den zahlreichen Tongefäßen abgesehen, war die reichste Beute bei Kenyons Ausgrabungen Getreide“, schreibt Wood. „In dem begrenzten Ausgrabungsbereich förderte man in einer Saison sechs ganze Scheffel Getreide zutage.
Das ist die größte Getreidemenge, die jemals bei einer Ausgrabung in Palästina entdeckt wurde. Dass solche Getreidevorräte in einer vernichteten Stadt übrig blieben, ist sehr ungewöhnlich, aber im Fall Jerichos gab es dafür einen besonderen Grund, der auch in der Bibel erklärt wird. Die Stadt wurde nicht, wie es damals so oft vorkam, durch eine Belagerung und Hungersnot in die Kapitulation gezwungen, sondern sie fiel schon nach sieben Tagen (Josua 6,15. 20).
Nach der Einnahme einer Stadt plünderten die Angreifer die Getreidevorräte im Normalfall. Das ist offensichtlich im Falle Jerichos nicht geschehen. Die Erklärung dafür ist einfach. Denn Josua sagte den Israeliten: ,[Diese] Stadt und alles, was darin ist, soll dem Bann des Herrn verfallen sein . . . Hütet euch vor dem Gebannten und lasst euch nicht gelüsten, etwas von dem Gebannten zu nehmen und das Lager Israels in Bann und Unglück zu bringen‘ (Josua 6,17-18). Die Israeliten hatten also Plünderungsverbot, und deshalb blieb nach der Einnahme der Stadt so viel Getreide übrig“ (Biblical Archaeology Review, März-April 1990, Seite 56).
Das biblische Datum für die Eroberung Jerichos wird ferner von der Art der dort gefundenen Tongefäße bestätigt. Manche Gefäße wiesen einen Stil auf, der nur in dem halben Jahrhundert zwischen 1450 und 1400 v. Chr. in Gebrauch war.
Wood resümiert: „Obwohl ich Kenyons Hauptthese ablehne, muss ich die Sorgfalt, mit der sie bei ihrer Ausgrabungsarbeit vorgegangen ist, loben . . . Die Gründlichkeit und Genauigkeit ihrer Arbeit und ihrer Aufzeichnungen spiegeln sich aber nicht in ihren Auswertungen wider. Wenn man das Beweismaterial kritisch untersucht, findet man keinen Anhaltspunkt für ihre Behauptung, die Stadt IV [die Schicht, die der Vernichtung und Verbrennung Jerichos entspricht] sei um die Mitte des sechzehnten vorchristlichen Jahrhunderts von den Hyksos oder den Ägyptern zerstört worden. Tongefäße, Schichtverhältnisse, steinerne Käfer und die Kohlenstoffdatierung lassen auf die späte Bronzezeit I um 1400 v. Chr. als Zeitpunkt für die Vernichtung Jerichos schließen. Damit scheint Garstang mit seiner Datierung recht zu haben“ (ebenda, Seite 57).
Als die amerikanische Wochenzeitschrift Time einen Beitrag über diese Ergebnisse von Jericho brachte, fanden ihre Autoren die Beweise derart überzeugend, dass sie sinngemäß schrieben: „Eins zu null für die Bibel“ (Michael D. Lemonick, Time, 5. März 1990, Seite 43).
Ein ungewöhnlicher Fund
„Damals baute Josua dem Herrn, dem Gott Israels, einen Altar auf dem Berge Ebal, wie Mose, der Knecht des Herrn, den Israeliten geboten hatte, wie geschrieben steht im Gesetzbuch des Mose: einen Altar von unversehrten Steinen, die mit keinem Eisen behauen waren. Und sie opferten dem Herrn darauf Brandopfer und brachten Dankopfer dar“ (Josua 8,30-31).
Vor 1982 regte sich in der Gegend um den Berg Ebal jahrhundertelang nichts. Dann kamen die Archäologen. Der Berg Ebal liegt im Westjordanland, das sich den Wissenschaftlern nach der Einnahme durch Israel im Sechstagekrieg 1967 öffnete.
Der israelische Archäologe Adam Zertal leitete die Ausgrabung einer merkwürdig anmutenden Erhöhung auf dem Gipfel des Berges Ebal. Nach einigen Monaten gab die Stätte erste Geheimnisse preis.
Man fand ein rechteckiges Bauwerk aus großen, unbehauenen Steinen. Zu seiner erhöhten Mitte führte eine Rampe. Die Maße des Gebildes waren recht stattlich: 9 x 8 x 3 Meter. In den Hohlräumen fanden sich Asche, Steine, Erde, Tonscherben und über viertausend Tierknochen. Die Knochen wurden zu einem Labor zur Untersuchung gesandt. Zertal meinte zuerst, ein Bauernhaus gefunden zu haben. Nur hatte es weder Fußboden noch Türen. Und alle Häuser der damaligen Zeit waren mit einem Fußboden ausgestattet, auch wenn er nur aus gestampfter Erde bestand.
Die Untersuchung der Knochen erfolgte in Jerusalem. Fast alle stammten von Rindern, Schafen oder Ziegen, also von Tieren, die nach dem dritten Buch Mose geopfert werden durften. Keiner der Knochen stammte von Tieren, die normalerweise auf einem Bauernhof zu finden sind, aber nach biblischer Vorschrift als unrein gelten: Pferde, Esel, Schweine, Hunde und Katzen. Konnte das Bauwerk wirklich ein Bauernhaus gewesen sein? Und wenn nicht, was dann?
Nach weiterer vierjähriger Ausgrabungsarbeit schaffte es Zertal, das ganze Bild seines Gegenstandes zu ermitteln. Das Ergebnis entsprach der biblischen Beschreibung eines Altars.
Wie Gott es für den Altarbau geboten hatte, wies die Steinrampe keine Stufen auf: „Und wenn du mir einen steinernen Altar machen willst, sollst du ihn nicht von behauenen Steinen bauen; denn wenn du mit deinem Eisen darüber kommst, so wirst du ihn entweihen. Du sollst auch nicht auf Stufen zu meinem Altar hinaufsteigen, dass nicht deine Blöße aufgedeckt werde vor ihm“ (2. Mose 20,25-26). Das war als Vorsichtsmaßnahme gedacht, damit die Anbetenden die Beine des Priesters nicht sahen, was bei der damaligen Kleidung beim Treppensteigen sonst leicht passiert wäre.
Die Bibel beschreibt außerdem einen Altar mit vier Außenwänden und einer Füllung aus Erde und Steinen. Diese Füllung diente als eine geeignete Unterlage für ein Opferfeuer. Der Fund auf dem Berg Ebal entspricht diesem Bild genau.
Etwas von dem Altar entfernt fand Zertal eine tiefe Ringmauer, die nach seiner Meinung als Grenze eines Versammlungsbereiches gedient haben könnte. Er zog daraus den Schluss, dass er den Prototyp einer Gottesdienststätte mit Altar und Versammlungsplatz im Freien gefunden hatte. Dass es sich um den von Josua auf dem Berg Ebal gebauten Altar handelte, hielt er für denkbar (Biblical Archaeology Review, Januar-Februar 1986).
Auf Geheiß Gottes hatte Mose gesagt: „Wenn ihr nun über den Jordan geht, so sollt ihr, wie ich euch heute gebiete, diese Steine auf dem Berge Ebal aufrichten und mit Kalk tünchen. Und dort sollst du dem Herrn, deinem Gott, einen Altar bauen aus Steinen, die kein Eisen berührt hat. Von unbehauenen Steinen sollst du diesen Altar dem Herrn, deinem Gott, bauen und Brandopfer darauf opfern dem Herrn, deinem Gott, und Dankopfer darbringen“ (5. Mose 27,4-7).
Wir haben somit starke Beweise dafür, dass Josua die Anweisungen Gottes getreu ausgeführt hat. Es wurde auf dem Berg Ebal ein Altar errichtet, der nur aus unbehauenen Steinen und einer Rampe statt einer Treppe bestand. Ausschließlich Knochen von Tieren, die von Gott für die Opfer erlaubt waren, konnten an dieser Stelle ausgegraben werden.
Die archäologischen Entdeckungen am Berg Ebal zeigen uns Wichtiges über die Zuverlässigkeit biblischer Geschichte. Der Berg Ebal ist erst in den letzten Jahren für archäologische Forschung zugänglich geworden. Die Berichte über Josua und den Berg Ebal waren jedoch schon immer zuverlässig, wie die dortigen Funde der letzten Zeit zeigen. Andere Berichte der Bibel sind ebenfalls zuverlässig, und ihre Zuverlässigkeit wird sicherlich durch zukünftige archäologische Untersuchungen untermauert werden.
In der nächsten Ausgabe behandeln wir archäologische Funde, die die Richterzeit im alten Israel erhellen.