Es gibt Menschen, die in Klöstern leben. Man meint, solche Menschen seien besonders demütig. Was aber ist echte Demut? Wie kann man sie sich aneignen?
Von L. Leroy Neff
Den meisten Christen sind die Seligpreisungen zu Beginn der Bergpredigt Jesu Christi bekannt. Jesus sagte, dass denen, die „vor Gott arm sind“, das Reich Gottes gehört (Matthäus 5,3; Einheitsübersetzung). Und auch: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Vers 5).
Diese Verse in den berühmten Seligpreisungen zeigen uns, dass Bescheidenheit und Demut eine Vorgabe für Christen sind. Die Lehre Christi, wie in der Bergpredigt in Matthäus, Kapitel 5, 6 und 7 formuliert und erläutert, nennt diese Grundeigenschaften an erster Stelle.
Es herrscht jedoch Unkenntnis darüber, was echte Demut wirklich ist. Oft wird sie verwechselt mit zur Schau getragenem frommem Gehabe, das jedoch mit echter Demut nicht viel zu tun hat. Diese „Demut“ ist oft begleitet von salbungsvoller, affektierter Sprache und frömmlerischem Getue.
Einige setzen Demut mit Trägheit oder Faulheit gleich. Manche glauben, nur die Armen seien demütig. Solche Leute sind manchmal auf ihre Armut und ihren Mangel an Fleiß noch stolz. Das ist aber keine echte Demut.
Wer die Bibel nicht kennt, wird wahrscheinlich dazu neigen, sich nach dem äußeren Schein zu richten und Leute, die religiös „tun“, als demütig zu betrachten. Im Kolosserbrief, Kapitel 2 gibt es mehrere Verse, die vor dieser Art falscher Demut warnen. Diejenigen, die sie praktizieren, werden „ohne Grund aufgeblasen" genannt (Vers 18), was das genaue Gegenteil echter biblischer Demut darstellt.
Solche Pseudodemütigen mögen auf gewisse Verbote pochen oder sich kasteien (Vers 21). Das sind jedoch Praktiken, die auf menschlichen Gedanken und Vorstellungen beruhen, nicht auf den Geboten des Allmächtigen. Keines dieser äußerlichen Zeichen kann als Gradmesser echter Demut gelten.
Wahre christliche Demut
Wahre christliche Demut erwächst aus dem Wirken des heiligen Geistes in uns. Sie erwächst aus einer engen Beziehung zu unserem allmächtigen Schöpfergott.
Einen wichtigen Aspekt wahrer Demut erläuterte Jesus durch das Beispiel eines Kindes. Er sagte: „Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich“ (Matthäus 18,4). Jesus zeigt, dass wir das Auftreten und die Geisteshaltung eines Kindes haben müssen, das heißt eine Haltung ohne Heuchelei: aufrichtig, wissbegierig, empfänglich, lernwillig.
Auch König David spricht diese kindlichen Züge an, wenn er sagt: „Fürwahr, meine Seele [Leben] ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele [Leben] in mir“ (Psalm 131,2). Ein kleines Kind, liebevoll erzogen, wird ohne Falsch sein bzw. wird Offenheit und Lernfreude zeigen.
Demut aber geht noch tiefer. Zur echten Demut gehört die richtige Einschätzung unseres Selbst im Vergleich zu Gott und Christus. Demut heißt lateinisch humilitas. Aus derselben Wurzel stammt auch das Wort „Humus“ – Erde. Wenn wir uns in der rechten Perspektive betrachten, sehen wir, dass wir sterblich sind, d. h. aus Erde gemacht sind.
Wir müssen zu der Erkenntnis kommen, wie unvollkommen, schwach und irdisch wir jetzt (noch) sind. Wir haben ein gewaltiges Potenzial, denn wir können Söhne Gottes werden. Vorläufig sind wir aber fehlbar und mit Schwächen behaftet. Nur ein einziger Atemzug, ein einziger Herzschlag trennt uns vom Tod.
Gott „weiß, was für ein Gebilde wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr“ (Psalm 103,14-16).
Doch der Mensch neigt nun einmal dazu, sich zum Mittelpunkt der Dinge zu machen und zu vergessen, wie brüchig und kurzlebig seine Existenz ist. Wir müssen uns unserer Sterblichkeit sehr tief bewusst werden und erkennen, wie schwach und unbedeutend wir alle neben der Größe Gottes sind.
Wir sollten unser Leben mit dem vollkommenen Leben vergleichen, das Jesus Christus führte. David war fähig, sich aus dieser Perspektive zu sehen (Psalm 22,7). Wer sich aus dieser Sicht betrachten kann, wird kaum je zu Selbstüberhebung neigen.
Ein Haupthindernis für die ehrliche Selbsteinschätzung ist auch dies: Nicht nur im Verhältnis zu Gott, auch im Verhältnis zum Mitmenschen mangelt es uns oft am rechten „Augenmaß“. Wir machen die eigene Person gern zum Maßstab, messen uns an uns selbst. „Sie verstehen nichts“, sagt Paulus von denen, die nicht in der Lage sind, sich einigermaßen objektiv mit der Umwelt zu vergleichen (2. Korinther 10,12).
Man solle, mahnt die Bibel an anderer Stelle, sich nie höher einschätzen, als es „sich gebührt“ (Römer 12,3). Ja, man soll grundsätzlich den anderen höher achten, sein Wohl über das eigene stellen: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient“ (Philipper 2,3-4). Wer das konsequent befolgt, hat der Selbstüberhebung einen Riegel vorgeschoben.
Demut kann geprüft werden
Mose beschreibt zusammenfassend, wie und warum Gott die alten Israeliten versuchte: „Und gedenke des ganzen Weges, den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, damit kundwürde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Manna, das du und deine Väter nie gekannt hatten, auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn geht“ (5. Mose 8,2-3).
Diesen Prüfungen und Bewährungsproben unterwarf Gott die junge Nation Israel vor allem, um festzustellen, ob sie ihm unter allen Umständen gehorchen würden oder nicht. Indem er sie eine Zeitlang hungern ließ und sie dann mit Manna speiste, brachte er ihnen bei, dass „Leben“ mehr bedeutet als nur materiellen Lebensunterhalt und dass auch der physische Lebensunterhalt von Gott kommt. Sie sollten lernen, Gott als die Quelle allen Lebens anzuerkennen und sich nicht etwa für autark – für nicht angewiesen auf die göttliche Vorsehung – zu halten.
Im selben Kapitel mahnt Mose auch: Gerade dann, wenn es uns materiell gut geht und all unseren Bedürfnissen Rechnung getragen ist, sollten wir daran denken, wer uns diesen Wohlstand schenkt. Wenn wir Gott und seine Segnungen vergessen – wenn unser „Herz sich überhebt“ (Vers 14) –, dann haben wir auch die Demut vergessen.
Echte Demut tut jedem von uns not. Aber muss Gott uns erst schlimme Erfahrungen durchmachen lassen, damit wir es auf diese Weise lernen? Oder können wir aus den Fehlern anderer lernen, die schließlich, durch viele Prüfungen und Schwierigkeiten, diese Grundtugend entwickelt haben?
Gott kann schwere Krankheit, Not, Verfolgung, drückende Armut über uns bringen. Das wäre der „harte Weg“, Demut zu lernen. Ein leichterer Weg wäre, wie gesagt, sich die Erfahrungen anderer vor Augen zu halten und aus ihnen zu lernen.
Traumatische Erfahrungen
Gottes Diener Mose war, wie ihn die Heilige Schrift beschreibt, „ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden“ (4. Mose 12,3). Wie kam Mose zu solcher Bescheidenheit und Demut? Er war am Königshof des Pharao herangewachsen und hatte die beste Erziehung genossen, die Ägypten zu bieten hatte. Nach Josephus, dem jüdischen Geschichtsschreiber, machte er als Heerführer erfolgreich Karriere.
Er besaß somit die besten Voraussetzungen, eingebildet und eitel zu sein. Nach gewisser Zeit regte sich in ihm die Sorge um seine Brüder, und er erschlug einen Ägypter, der einen Israeliten misshandelt hatte. Sein Verbrechen wurde entdeckt, und Mose sah sich gezwungen, in die Wüste zu fliehen, wo er vierzig Jahre im Exil lebte. Ohne Zweifel hatte er nun genug Zeit, über seine Vergangenheit nachzudenken und seine Fehler zu bereuen.
Mit achtzig Jahren sah er in der Einöde den brennenden Dornbusch und begegnete – wohl zum erstenmal in seinem Leben – Gott.
„Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“ (2. Mose 3,2-6).
Zeit, Umstände und das Erlebnis wirkten tief auf ihn ein. Die Prüfungen und Schicksalsschläge, die er durchgemacht hatte, schließlich als „Schlüsselerlebnis“ seine Begegnung mit dem Allmächtigen, all das ließ ihn reifen und zu echter Demut gelangen.
Menschen, die lange gelebt und aus ihren Erfahrungen profitiert haben, sind oft reifer bzw. abgeklärter. Sie sind wahrhaft gebildet und haben ein tiefes Verständnis für die Eigenarten und Schwächen anderer, was sich in Demut und Bescheidenheit äußert.
Hiob war ein weiterer Mann aus alter Zeit, der einmal große Macht, Autorität und Einfluss besaß. All das wurde ihm mit einem Schlage genommen. Viele Monate litt er unter unsäglichen Heimsuchungen. Schließlich, nachdem Gott persönlich mit ihm gesprochen hatte, gelangte auch er zu jener seltenen Tugend: echter Demut. Nach seinem Dialog mit dem Schöpfergott sagte er: „Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“ (Hiob 42,6). Auch er kam zu einer richtigen, verhältnismäßigen Einschätzung seines Selbst.
König Nebukadnezar von Babylon war einer der mächtigsten Herrscher der Antike: ein stolzer, hochmütiger und skrupelloser Mensch. Ihn erniedrigte Gott auf eine Weise, die in ihrer Schrecklichkeit ihresgleichen sucht. Er schlug ihn mit Wahnsinn, und sieben Jahre lang vegetierte Nebukadnezar wie ein wildes Tier.
Als sein Verstand zurückkehrte und er wieder die Herrschaft des großen Babylonierreiches übernehmen konnte, zog er aus seiner Herabsetzung die Erkenntnis: „Darum lobe, ehre und preise ich, Nebukadnezar, den König des Himmels; denn all sein Tun ist Wahrheit, und seine Wege sind recht, und wer stolz ist, den kann er demütigen“ (Daniel 4,34). Auch er hatte nun letztendlich sich richtig einzuschätzen gelernt. Nach einem Leben voll Stolz und Hochmut war er demütiger geworden.
Lesen und lernen?
Die Bibel gibt viele Beispiele von Menschen, die eitel und aufgeblasen waren und dann durch läuternde Erfahrungen gingen, die sie demütigten.
In gewissem Sinn lässt sich Demut nicht aus einem Buch erlernen. Gott erzieht sie uns an durch praktische Alltagserfahrungen, aufgrund derer sein heiliger Geist geübt und entwickelt wird. Zeigt man sich dem Geist Gottes empfänglich und nimmt man sich die Beispiele der Bibel zu Herzen, kann man das „härteste Erfahrungslernen“ allerdings vermeiden. Muss Gott uns erst traumatischen Erlebnissen unterwerfen – die harte Lehre? Oder können wir Demut auf leichtere Art lernen: aus den Fehlern anderer, aus der Vielzahl einschlägiger Bibelberichte, durch die Anleitung, die uns der heilige Geist in uns Tag für Tag gibt?
Wenn wir in das Reich Gottes eingehen wollen, müssen wir echte Demut erwerben. Nur wer sich belehren lässt, nur wer sich selbst und seinen Stellenwert, mit der Größe Gottes verglichen, richtig einschätzt, wird das Reich Gottes erben, das bald auf dieser Erde errichtet werden wird.