„An der Stätte des Rechts war Gottlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit war Frevel“, schrieb einst König Salomo. Wie reagieren Sie auf Ungerechtigkeit?

Von John LaBissoniere

Als ich ein kleiner Junge war, beschwerte ich mich häufig: „Das ist nicht fair!“ Ich meinte, dass alles immer fair zugehen musste. Wenn das nicht der Fall war – nun, dann war es einfach nicht fair.

Wenn ich mich über eine augenscheinliche Ungerechtigkeit in der Familie beschwerte, sagte mein Vater meistens: „Das Leben ist nicht fair.“ Er erklärte mir, dass ich immer wieder bitter enttäuscht würde, wenn ich nur Fairness vom Leben erwartete, denn so spiele das Leben nicht. Natürlich gefiel mir das nicht. Doch als ich heranreifte, erkannte ich, dass im Leben aller Menschen ungerechte, beschwerliche und unverschuldete Ereignisse stattfinden.

Dennoch stört mich eine ungerechte Behandlung immer noch – besonders dann, wenn sie sich gegen unschuldige und nichts ahnende Menschen richtet. Vielleicht teilen Sie diese Reaktion, wenn Sie erfahren, dass eine skrupellose Person jemanden übervorteilt hat oder ein Krimineller unbestraft davonkommt.

Wie reagieren Sie, wenn Sie persönlich enttäuscht, belogen, ungerechterweise zurechtgewiesen oder betrogen werden? Wie fühlen Sie sich, wenn Ihr Ruf zerstört wird? Vielleicht werden wir böse und bitter oder suchen Rache. Es kann auch sein, dass wir in Traurigkeit bzw. Depression fallen und uns von denjenigen zurückziehen, die uns emotional verletzt haben.

Sind das wirklich wirkungsvolle Methoden, um mit Ungerechtigkeit umzugehen? Oder gibt es konstruktivere Methoden? Was sollten wir tun, wenn man uns unfair und ungerecht behandelt? Wie können wir den Ärger abbauen und die Enttäuschung verarbeiten, die wir in solchen Situationen unweigerlich empfinden werden?

Ein schwieriger Start im Leben

Die folgende wahre Geschichte gibt viel Stoff zum Nachdenken: Anne Mansfield Sullivan wurde am 14. April 1866 in Feeding Hills, Massachusetts, USA geboren. Annes Jugend war von Not und Elend geprägt. Sie wuchs nicht nur in bitterer Armut auf, sondern wurde auch von ihrem alkoholkranken Vater misshandelt. Im Alter von fünf Jahren bekam sie eine Bindehautentzündung, eine bakterielle Entzündung des Auges. Die Entzündung wurde nicht behandelt und sie wurde fast blind.

Als Anne acht Jahre alt wurde, starb ihre Mutter, Alice Sullivan, an Tuberkulose. Zwei Jahre später setzte ihr Vater Anne und ihren Bruder James am staatlichen Krankenhaus in Tewksbury, Massachusetts aus, weil er sich mit der alleinigen Erziehung überfordert fühlte.

Die Bedingungen in dieser Institution waren beklagenswert, denn es mangelte ständig an Geld. Das Haus bedurfte dringend diverser Reparaturen und war chronisch überbelegt. Das war schon schlimm genug. Doch dann verstarb Annes Bruder auch noch nur drei Monate später an Tuberkulose.

Während ihres vierjährigen Aufenthaltes in Tewksbury erhielt Anne zwei Operationen, die ihre Sehfähigkeit aber nicht viel verbessern konnten. Aber im Oktober 1880, als Anne 14 Jahre alt wurde, wurde sie am Perkins-Institut für Blinde in Bosten angenommen. (Diese Schule wurde 1832 gegründet und besteht heute noch.)

Hindernisse überwinden

Am Perkins-Institut begann sich Annes Situation zu verbessern. Sie bekam zusätzliche Behandlungen, die ihr Sehvermögen genug verbesserten, um für kurze Zeitspannen lesen zu können. Daraufhin konzentrierte sie sich fleißig auf ihre akademische Ausbildung. Anne lernte auch die Zeichensprache, um mit einer Freundin kommunizieren zu können, die sowohl blind als auch taub war. Anne studierte so akribisch, dass sie ihre Ausbildung als Jahrgangsbeste abschloss.

In ihrer Abschlussrede forderte sie ihre Klassenkameraden und sich selbst mit folgenden Worten heraus: „Liebe Klassenkammeraden, die Pflicht ruft uns ins aktive Leben hinaus. Lasst uns fröhlich, voller Hoffnung und ernsthaft gehen, und lasst uns unseren Platz im Leben finden. Wenn wir ihn gefunden haben, lasst uns ihn bereitwillig und treu ausführen; denn jedes Hindernis, das wir überwinden, jeden Erfolg, den wir erzielen, bringt den Menschen näher zu Gott und lässt das Leben werden, wie er es sich für uns wünscht.“

Einige Lehrer und Mitarbeiter des Perkins-Institutes waren von Annes positiver Einstellung, ihrem Talent, ihrer Intelligenz und Ausdauer beeindruckt. Dazu gehörte auch Direktor Michael Anagnos, der sich persönlich dafür einsetzte, dass Anne von der Keller-Familie in Tuscumbia, Alabama als Lehrerin für ihre blinde und taubstumme Tochter Helen eingestellt wurde.

Helen Keller, eine der am häufigsten bewunderten Frauen des 20. Jahrhunderts, bescheinigte Anne Sullivan einen außerordentlichen Einfluss in ihrem Leben. In ihrer Autobiografie schrieb sie: „Der wichtigste Tag in meinem Leben, an den ich mich mein ganzes Leben erinnern werde, ist der Tag, an dem Anne Mansfield Sullivan zu mir kam.“

Wir entscheiden, wie wir reagieren

Was verdeutlicht Anne Sullivans Geschichte? Wenn man die großen Schwierigkeiten bedenkt, die sie in ihrer Jugend durchmachen musste, hätte sie frustriert, verdrießlich und nachtragend werden können. Sie hätte ohne Ende über die Ungerechtigkeit und Probleme ihrer Kindheit klagen können.

Doch sie tat es nicht. Stattdessen entschied sich Anne dafür, über ihre Vergangenheit hinauszuwachsen und jede Gelegenheit zu nutzen, ihre Talente und Fähigkeiten zu entdecken, zu entwickeln und auszubauen. Dadurch entwickelte sie emotionale Reife und Charakter.

Ebenso wie Anne Sullivan sich bewusst dafür entschied, ihrer Behinderung auf konstruktive Weise zu begegnen, haben auch wir eine Wahl, wenn wir Ungerechtigkeit und Unfairness erleiden. Es macht keinen Unterschied, ob wir erst vor Kurzem einen Rückschlag erfahren haben oder ob es sich um eine langwierige Situation handelt, wie sie Anne erlebt hat. Wir haben die Wahl, wie wir reagieren und was wir tun werden.

Die Bibel enthält einige positive und negative Beispiele über solche Entscheidungen.

Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern

Untersuchen wir kurz den Bericht über Josef und seine Brüder im Buch 1. Mose, Kapitel 37. Die Geschichte beginnt damit, dass Josef seinem Vater einen negativen Bericht überbringt, wie seine Brüder ihre Herden weideten (Verse 1-2). Die Brüder waren darüber sehr verärgert. Außerdem konnten die Brüder erkennen, dass ihr Vater Josef ihnen vorzog (Vers 3). Diese empfundene Ungerechtigkeit machte sie wütend, und das führte zu Eifersucht und sogar Hass.

Später hatte Josef zwei lebhafte Träume, in denen er von seinem Vater und den Brüdern verehrt wurde. Als er seinen Brüdern von den Träumen erzählte, meinten sie, dass er sich absichtlich über sie stellte, was sie noch mehr verärgerte (Verse 5-11).

Danach schickte Jakob Josef wieder ins Weidegebiet zu seinen Brüdern und bat um einen Bericht bei seiner Rückkehr. Inzwischen war der Hass der Brüder gegenüber Josef so groß, dass sie über seine Ermordung nachdachten (Verse 18-20).

Ruben, der älteste Bruder, erkannte das Ausmaß ihrer Feindschaft und konnte die anderen für eine kurze Zeit beruhigen (Verse 21-24). Doch später warfen die Brüder Josef ohne Rubens Wissen in die Grube und verkauften ihn für 20 Silberlinge. Um ihren Verrat zu vertuschen, töteten sie eine Ziege und tauchten Josefs Mantel in das Blut. Sie brachten das blutgetränkte Gewand zu Jakob und erzählten ihm, dass ein wildes Tier Josef getötet haben musste. Als er das hörte, weinte Jakob bitterlich und weigerte sich, über den Verlust seines Sohnes getröstet zu werden (Vers 33).

Josefs Reaktion auf ungerechte Behandlung

Es genügt hier festzustellen, dass Josef angesichts der vielen unfairen Behandlungen, die er ertragen musste, bitter hätte werden können. Er hätte endlose Stunden über seine Probleme nachdenken und seine emotionalen Wunden nähren können. Aber das tat er nicht.

Er entschied sich dafür, seine Talente und Energien darauf zu konzentrieren, die bestmögliche Person zu werden, während er darauf vertraute, dass Gott ihm in jeder Situation helfen würde. Als seine Brüder später nach Ägypten kamen, wo Josef inzwischen zum hohen Beamten aufgestiegen war, behandelte er sie mit Freundlichkeit, Großzügigkeit und Nachsicht. Er erklärte ihnen sogar, dass Gott ihre unfaire Behandlung dazu benutzt hatte, um ihnen letztendlich ihr Leben und das Leben anderer zu retten (1. Mose 50,15-21).

Dieses Beispiel macht deutlich, dass Gott in der Lage ist, ungerechte Situationen irgendwann wieder auszugleichen. Der Apostel Petrus erklärte auch, dass Gott sehr sorgfältig über diejenigen wacht, die ihm treu und gehorsam bleiben, wenn sie ungerecht behandelt werden. „Es ist eine Gnade Gottes, wenn jemand ohne Schuld nur deshalb Kränkungen erfährt und leiden muss, weil er im Gewissen an Gott gebunden ist“ (1. Petrus 2,19; Gute Nachricht Bibel).

Gott lässt ungerechte Situationen zu. Er kann die Dinge in diesem physischen Leben wieder richten – aber er möchte es nicht immer. In seiner Weisheit erlaubt er manchmal, dass seine treuen Nachfolger unfaires und sogar schändliches Verhalten erdulden müssen (Psalm 119,75).

Hebräer 11, das Glaubenskapitel der Bibel, beschreibt, wie sehr das auf eine Reihe von Gottes Dienern zutraf: „Andere wiederum wurden verspottet und ausgepeitscht, gefesselt und ins Gefängnis geworfen. Sie wurden gesteinigt, zersägt und mit dem Schwert hingerichtet. Sie zogen in Schaf- und Ziegenfellen umher, Not leidend, bedrängt, misshandelt. Wie Flüchtlinge irrten sie durch Wüsten und Gebirge und lebten in Höhlen und Erdlöchern . . . Diese alle fanden durch ihr Vertrauen bei Gott Anerkennung“ (Verse 36-40; Gute Nachricht Bibel).

Denken wir auch an Jesus Christus. Er führte ein sündenloses Leben und verdiente die gnadenlose Behandlung nicht, die er erfuhr (Matthäus 16,21). Wie reagierte er auf diese Ungerechtigkeit? Er legte seine Situation bereitwillig und treu in die gerechten und mächtigen Hände seines Vaters (1. Petrus 2,23). Er betete sogar: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34).

Die christliche Perspektive

Es ist eine Realität des Lebens, dass jeder Mensch Ungerechtigkeit erfährt. Dies galt für Anne Sullivan, den jungen Josef und ganz besonders auch für Jesus Christus, der die größte Ungerechtigkeit erlitt (Hebräer 12,2). Das wichtigste Prinzip ist, sich daran zu erinnern, dass unsere Reaktion auf ungerechte Behandlung wichtiger ist als die ungerechte Behandlung selbst.

Auf ungerechte Situationen mit Zorn, Bitterkeit oder Rache zu reagieren ist nicht die Antwort (Epheser 4,31-32). Stattdessen sollen wir Gott im Glauben und Gehorsam vertrauen. Das bringt uns inneren Frieden und dann zu seiner Zeit auch den Eintritt ins ewige Leben (Philipper 4,6-7; Matthäus 19,17).

Jesu Nachfolger sollen auf gleiche Weise wie Christus selbst reagieren, wenn sie ungerechterweise leiden. Jesus ermahnte seine Nachfolger, Ungerechtigkeit mit Liebe und Vergebung zu begegnen (Matthäus 5,44-45). Natürlich gibt es bestimmte Situationen, wo wir uns respektvoll gegen unfaire Behandlung verteidigen können. Der Apostel Paulus z. B. nutzte seine Rechte als römischer Bürger, um sich vor den Misshandlungen des Militärs zu schützen (Apostelgeschichte 22,25).

Paulus erkannte aber auch, dass es in diesem Zeitalter, in dem der Teufel regiert, nicht immer eine vollständige Gerechtigkeit geben wird (Galater 1,4; Lukas 4,6). Über die heutige Zeit hinausschauend schrieb er: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Römer 8,18).

Die Zeit wird kommen, wenn Satan und seine Dämonen entfernt werden und Jesus Christus auf Erden regieren wird (Offenbarung 11,15; 20,1-5; 5,10). Wenn dieser Tag anbricht, werden alle Ungerechtigkeiten wieder ausgeglichen werden, einschließlich derjenigen, die wir persönlich erlebt haben (Römer 8,35-39). Beten wir dafür, dass dieser Tag bald kommen möge!