Was wurde „an das Kreuz geheftet“? Was waren die „Forderungen“, die „gegen uns“ waren? Meinte der Apostel Paulus damit das Gesetz Gottes?

Von der Redaktion

Die meisten von uns haben wenigstens einmal im Straßenverkehr eine Geschwindigkeitskontrolle erlebt. Diejenigen, die bei solchen Kontrollen zu schnell fahren, können nur auf die Nachsicht der Polizeibeamten hoffen. Vielleicht wäre es trotzdem hilfreich, wenn der bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ertappte Fahrer sagen würde: „Ja, es stimmt: Ich fuhr zu schnell. In Zukunft werde ich auf die Höchstgeschwindigkeit achten und nicht zu schnell fahren.“ Vielleicht käme man mit einer solchen Äußerung mit einer Verwarnung davon.

Stellen Sie sich jedoch folgende Reaktion eines zu schnellen Fahrers vor: „Ich werde die Strafe für meine Übertretung nicht nur nicht zahlen, sondern ich erwarte auch, daß Sie die Geschwindigkeitstafeln verschwinden lassen, damit ich mich nie wieder des zu schnellen Fahrens schuldig mache!“ Kein Polizeibeamter würde in so einem Fall auf eine Anzeige verzichten!

Die gesetzesfeindliche Haltung zu Kolosser 2, Vers 14

So unerhört die Logik des zweiten Fahrers ist, gibt es manche bekennenden Christen, die die gleiche Logik bei der Auslegung der Heiligen Schrift anwenden. Sie definieren die Gnade Gottes dahingehend, daß er uns die Übertretung seines Gesetzes vergibt und das Gesetz aufhebt, das wir übertreten haben. Solche Christen begründen ihre Sichtweise mit der Bibelstelle in Kolosser 2, Vers 14: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet“ (alle Hervorhebungen durch uns).

Gesetzesfeindliche Bibellehrer legen diesen Vers so aus, daß das Gesetz Gottes der „Schuldbrief“ ist, der „getilgt“ und „an das Kreuz geheftet“ wird. Solchen Lehrern genügt die Abschaffung des geschriebenen Gesetzes, obwohl einige sogar das angeblich in unserem Gewissen verankerte Gesetz loswerden wollen.

In dem Wycliffe Bible Commentary heißt es dazu: „Der Schuldbrief ist eine Art Schuldschein ... und bezieht sich wahrscheinlich auf das geschriebene mosaische Gesetz. Für Heiden mag es auch das Gesetz umfassen, dem ihr Gewissen zustimmt (vgl. Römer 2,14-15; 2. Mose 24,3; Epheser 2,15). Dieser Schuldbrief, der nicht erfüllt wurde und deshalb gegen uns gerichtet war, wurde ... an seinem Kreuz aufgelöst“ (1962, Stichwort „Kolosser 2,14“).

In diesen Ausführungen gewinnt man den Eindruck, als sollten Christen das Gesetz als in jeglicher Form abgeschafft sehen. Doch der Wycliffe-Kommentar hebt an anderer Stelle das Gesetz Gottes in einem positiven Licht hervor und widerspricht damit der eigenen Auslegung von Kolosser 2, Vers 14: „Heiden, die sich an diesen Standard halten, sind deshalb nicht ganz ohne Gesetz. Sie sind gehorsame Täter des Gesetzes, das Gott ihnen ins Herz legte“ (Stichwort „Römer 2,12-16“). Diese weitverbreitete Auslegung von Kolosser 2, Vers 14 hinterläßt uns keinen Maßstab für unsere Lebensführung außer einem angeblichen instinktiven Gesetz in unserem Gewissen.

Lassen wir die Heilige Schrift sich selbst auslegen, gelangen wir zu einem anderen Ergebnis. Der vorhergehende Vers macht klar, was durch Jesu Tod getilgt wurde: „Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden“ (Kolosser 2,13).

Unsere „Sünden“ sind das Problem, das in diesem Vers angesprochen wird – nicht das Gesetz, gegen das wir verstoßen haben. Paulus wechselt nicht plötzlich das Thema im nächsten Vers.

Der Schuldbrief

Jetzt sind wir bei einem Schlüsselwort in Kolosser 2, Vers 14 angelangt: „Schuldbrief“. Mit dem griechische Wort für „Schuldbrief“ – cheirographon – meinte man eine handschriftliche „rechtskräftige Urkunde oder Verpflichtung“ (James Strong, New Strong’s Dictionary of Hebrew and Greek Words, 1997). Interessanterweise kommt dieses griechische Wort nur in diesem einen Vers des Neuen Testamentes vor.

Das Vine’s Expository Dictionary führt zu cheirographon folgendes aus: „Cheirographon, mit der Bedeutung ,handschriftlich‘. Gemeint war ein Schuldschein, handschriftlich angefertigt und in öffentlichen und privaten Verträgen verwendet, ein technisches Wort in den griechischen Papyri. Eine große Anzahl handschriftlicher Schuldscheine wurde veröffentlicht. Dazu meint Dr. Deissmann: ,Eine stereotype Formel in diesen Dokumenten ist die Verpflichtung, das geliehene Geld zurückzuzahlen, alle vom Schuldner handschriftlich geschrieben, oder, wenn er selbst nicht schreiben konnte, von einem anderen für ihn geschrieben mit einem entsprechenden Hinweis‘ ...

In dem berühmten Florenzer Papyrus des Jahres 85 n. Chr. ordnet der Statthalter Ägyptens in einer Gerichtsverhandlung an: ,Laß das Handschriftliche getilgt werden‘, was der Tilgung des Schuldscheins in Kolosser 2, Vers 14 ähnelt. Viele Beispiele dieser Art könnten angeführt werden, woraus wir ersehen können, daß die Papyri einen klaren expositorischen Wert haben.

Vor dieser Entdeckung enthielten Lexika Listen der sogenannten hapax legomena – Wörter, die im Neuen Testament jeweils nur einmal benutzt werden und von denen manche für eine durch den heiligen Geist inspirierte Wortschöpfung zur Weitergabe der christlichen Wahrheit gehalten wurden. Zwischenzeitlich wurden fast alle dieser Wörter in [zeitgenössischen] Papyri gefunden.

Der heilige Geist schuf also keine besondere, neue Sprache für das Christentum, sondern bediente sich der Umgangssprache jener Zeit, des weltbürgerlichen Griechischen“ (W. Graham Scroggie, Vine’s Expository Dictionary of New Testament Words).

Cheirographon in Kolosser 2, Vers 14 ist kein neues Wort, das vom heiligen Geist inspiriert wurde. Statt dessen ist es ein zu Lebzeiten des Apostels Paulus gut bekanntes Wort, mit dem ein handschriftlicher Schuldschein gemeint war, dem Urteil für eine Gesetzesübertretung ähnlich.

Getilgt

Das griechische Wort für „getilgt“ – exaleipho – bedeutet „vollständig verwischen ... ausmerzen“ (W. E. Vine, Merrill Unger und William White, Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 1997, Stichwort „blot out“). Dieses griechische Wort wird auch in Apostelgeschichte 3, Vers 19 benutzt: „So tut nun Buße und bekehrt euch, daß eure Sünden getilgt werden [exaleipho].“

Gott haßt unsere Sünden, die die Übertretung seines Gesetzes sind. Aus diesem Grund hat er eine Möglichkeit geschaffen, wodurch sie getilgt – ausgemerzt – werden können. Im allgemeinen haßt die Menschheit jedoch das Gesetz Gottes: „Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht“ (Römer 8,7). Deshalb gibt es in so vielen christlichen Religionen die Auslegung, daß das Gesetz Gottes abgeschafft ist und nicht länger gehalten werden muß. Die Frage läßt sich aber stellen, warum man Sünden bereuen muß (Apostelgeschichte 3,19, „Buße tun“), wenn Gott das Gesetz, dessen Übertretung Sünde ist, bereits abgeschafft hatte.

Paulus stellte keine neue Terminologie vor, indem er das Tilgen von Schuld behandelte. Das Alte Testament verbindet das hebräische Wort machah mit der Bedeutung „tilgen, ausmerzen“ mit Übertretungen. In Jesaja 43, Vers 25 lesen wir: „Ich, ich tilge [machah] deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“

In Psalm 51, Vers 3 bzw. 9 schrieb David: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge [machah] meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit ... Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge [machah] alle meine Missetat.“ David schrieb diesen Psalm, nachdem er Ehebruch mit Batseba begangen hatte. Seine Worte waren aber nicht: „Sei mir gnädig, o Gott und schaffe das Gesetz gegen Ehebruch ab, damit man mich nie wieder der Sünde des Ehebruchs bezichtigen kann.“

Gott benutzte dieses hebräische Wort für „tilgen“, um die für unbußfertige Sünder vorgesehene Strafe zu beschreiben: „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen [machah] von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel“ (1. Mose 6,7).

„Als nun Mose wieder zu dem Herrn kam, sprach er: Ach, das Volk hat eine große Sünde getan, und sie haben sich einen Gott von Gold gemacht. Vergib ihnen doch ihre Sünde; wenn nicht, dann tilge [machah] mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast. Der Herr sprach zu Mose: Ich will den aus meinem Buch tilgen [machah], der an mir sündigt“ (2. Mose 32,31-33).

„Und der Herr sprach zu mir: Ich sehe, daß dies Volk ein halsstarriges Volk ist. Laß ab von mir, damit ich sie vertilge und ihren Namen austilge [machah] unter dem Himmel; aber aus dir will ich ein stärkeres und größeres Volk machen als dieses“ (5. Mose 9,13-14).

Der Begriff „tilgen“ bezieht sich auf die Entfernung von Sünde oder Sündern und nicht auf die Abschaffung des Gesetzes. Gott möchte alle von dem „Fluch des Gesetzes“ (Galater 3,10. 13) befreien: Tod als Strafe für die Übertretung des Gesetzes. Gott wird jedoch alle diejenigen „tilgen“, die nicht bereuen wollen.

Forderungen

Das letzte Wort, mit dem wir uns befassen, ist das Wort „Forderungen“. Im griechischen Urtext in Kolosser 2, Vers 14 steht das Wort dogma, mit der Bedeutung „Meinung, öffentliche Verlautbarung“ (Robert L. Thomas, New American Standard Hebrew-Aramaic and Greek Dictionaries, 1999).

In der griechischen Gesellschaft zur Zeit des Neuen Testamentes bedeutete dieser Ausdruck eine amtliche, handschriftliche Anschuldigung gegen einen Gesetzesübertreter. Daran erkennt man den wahren Sinn von Kolosser 2, Vers 14. In dem jüdischen Neuen Testament wurde dieser Vers folgendermaßen übersetzt: „Er hat die Rechnung der Anklagen gegen uns beglichen.“

In der Guten Nachricht Bibel wurde der Vers wie folgt übersetzt: „Den Schuldschein, der uns wegen der nicht befolgten Gesetzesvorschriften belastete, hat er für ungültig erklärt. Er hat ihn ans Kreuz genagelt und damit für ungültig erklärt.“

Die Kreuzigung in den Evangelien

Bei der Beantwortung der Frage, was „an das Kreuz geheftet wurde“, ist der Bericht der vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zur Kreuzigung Jesu Christi einleuchtend. Es ist klar, daß Jesus für unsere Sünden gestorben ist. In Matthäus 27, Vers 37 lesen wir: „Und sie brachten oben über seinem Haupt seine Beschuldigungsschrift an: Dies ist Jesus, der König der Juden“ (Elberfelder Bibel).

In dem Bibelkommentar Das Neue Testament erklärt und ausgelegt heißt es dazu: „Über dem Haupt eines Menschen, der gekreuzigt wurde, wurde im allgemeinen eine Inschrift mit der Ursache, die zu seiner Bestrafung geführt hatte, angebracht“ (Band 4, Hännsler-Verlag, 1992, Seite 101). Die Inschrift enthielt die eigentliche Anschuldigung gegen Jesus: Er war der König der Juden. Nur wenige Stunden vor seinem Tod wurde Jesus von dem römischen Statthalter Pontius Pilatus verhört: „Jesus aber stand vor dem Statthalter; und der Statthalter fragte ihn und sprach: Bist du der König der Juden?“ (Matthäus 27,11).

Jesus ist wirklich der König der Juden – und der ganzen Menschheit –, aber die religiösen Führer der Juden nutzten diese Beschuldigung, um Pilatus in eine Falle zu locken: „Die Juden aber schrien: Läßt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn, wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser“ (Johannes 19,12).

Um sich vor diesem Vorwurf zu schützen, veröffentlichte Pilatus eine offizielle Verlautbarung der Beschuldigung gegen Jesus: „Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, daß er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“ (Johannes 19,19-22).

Pilatus und die Juden wußten nicht, daß Jesus den „Schuldschein“ – die „Beschuldigungsschrift“ unserer Gesetzesübertretungen – an sein Kreuz heftete. Die Vollstrecker der Kreuzigung erkannten diese „geistliche Inschrift“ über seinem Haupt nicht. Kolosser 2, Vers 14 versteht man problemlos, wenn man den Wortlaut dieser geistlichen Inschrift weiß: „Die Todesstrafe für deine Sünden, die ein Unschuldiger erleidet."