Seit mehr als 1500 Jahren ist der Führungsanspruch des römischen Papstes eine Quelle der Uneinigkeit unter Christen. Trägt Jesus dafür die Verantwortung?
Von Paul Kieffer
Im Rahmen der ökumenischen Bewegung finden seit mehr als 30 Jahren Gespräche zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der östlichen Orthodoxie statt. Mit ca. einer Milliarde bzw. 300 Millionen Mitgliedern gehören diese Kirchen heute mit Abstand zur Mehrheit der bekennenden Christen.
Bei seinem Amtsantritt vor sechs Jahren sprach sich Papst Benedikt XVI. für den theologischen Dialog zwischen seiner Kirche und den Kirchen der Orthodoxie aus. Trotz der jahrelangen Gespräche unter den Theologen auf beiden Seiten scheint die Annäherung seit etwa 2009 zum Stillstand gekommen zu sein.
Bei ihren Treffen 2009 auf Zypern und letztes Jahr in Wien konnte bei den Beratungen keine Einigung erzielt werden. Was war der Grund? Bei den Gesprächen war man bei dem Thema angelangt, das Papst Paul VI. einst als Stolperstein bezeichnet hatte: die Stellung des Papstamtes im Christentum.
Der weltweite kirchliche Führungsanspruch des römischen Papstes ist nicht nur ein Stolperstein bei den Gesprächen zwischen Katholiken und Vertretern der Othodoxie. Er ist das heikle Thema bei allen Beziehungen in der ökumenischen Bewegung. Beispielsweise ist die Frage zwischen Katholiken und Lutheranern kontrovers, „ob der Primat des Papstes für die Kirche notwendig ist oder ob er nur eine grundsätzlich mögliche Funktion darstellt“. Nach evangelischer Auffassung gehört das Papstamt nicht zum Wesen der Kirche („Das Evangelium und die Kirche“, Nr. 67, in Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Band I, 1931-1982, herausgegeben von H. Meyer u. a., Paderborn, 1991).
Die Wichtigkeit des Papstamtes für die römisch-katholische Kirche wurde in einer im Juli 2007 veröffentlichten Stellungnahme mit dem Titel „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ bestätigt. Darin bekräftigte der Vatikan den Standpunkt der römisch-katholischen Kirche, wonach sie heute die einzige Kirche sei, in der die apostolische Nachfolge Jesu Christi ununterbrochen vertreten ist. Daher sei die Kirche Jesu allein in der katholischen Kirche vollständig verwirklicht. Die Feststellung war eine Wiederholung der Sichtweise, die auch vor elf Jahren in dem Papier Dominus Iesus veröffentlicht wurde.
Für Papst Benedikt ist die apostolisch-päpstliche Nachfolge ein wichtiger Schlüssel zur Identität der einzig wahren Kirche. Aus vatikanischer Sicht muss eine „Schwesterkirche“, die derzeit von der römisch-katholischen Kirche getrennt ist, ihren Ursprung auf Petrus als den vermeintlich ersten Papst zurückführen können. Als Beispiel für eine Konfession, die dieses Kriterium erfüllt, seien die Kirchen der östlichen Orthodoxie genannt.
Die vatikanische Stellungnahme vor vier Jahren scheint auch klarzustellen, in welcher Richtung sich nach katholischer Sicht die Ökumene zu bewegen hat. Danach wird es keine Wiederherstellung oder Neuschaffung der konfessionellen Einigkeit unter Christen in Bezug auf die Autorität des Papstes sozusagen „auf halbem Wege“ geben.
Stattdessen wird es nur dann zur überkonfessionellen Vereinigung kommen, wenn sich nichtkatholische Konfessionen der katholischen Sichtweise anschließen. Das ist im Kern eine Hauptaussage der Ausführungen von Juli 2007 in Bezug auf die Glaubensgemeinschaften, „die noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen“.
Der Stolperstein „Petri Stuhl“ wird also weiterhin eine Belastung für den ökumenischen Dialog bleiben.
Der Anspruch der römisch-katholischen Kirche auf den Vorrang des Papstes als Führer des gesamten Christentums wird zum einen auf ein angebliches Bischofsamt des Apostels Petrus in Rom bzw. eine damit beginnende ununterbrochene päpstliche Nachfolge zurückgeführt. Zum anderen wird dieser Anspruch mit Jesu Christi angeblicher Einsetzung des Petrus als erstes menschliches Oberhaupt der Kirche begründet.
War Petrus in Rom?
War der Apostel Petrus wirklich der erste Bischof von Rom? Nach kirchlicher Überlieferung soll Petrus ca. zehn Jahre nach der Kreuzigung Jesu Christi nach Rom gereist sein und sich dort viele Jahre aufgehalten haben. Als erster Bischof in Rom soll er auch das Evangelium gepredigt haben. Doch ist diese Tradition biblisch?
Lesen wir zunächst die Angaben zur Überlieferung über den Apostel Petrus aus der Sicht der katholischen Kirche nach. Der Katholische Katechismus des Jahres 1927 schreibt Folgendes zu diesem Thema:
„Der Papst ist das sichtbare Oberhaupt der Kirche; er ist der Nachfolger des heiligen Petrus, der Stellvertreter Christi. Jesus Christus ist das unsichtbare Oberhaupt der Kirche. Der heilige Petrus ist um das Jahr 64 n. Chr. als Bischof von Rom gestorben. Deshalb ist der Bischof von Rom, der Papst, sein rechtmäßiger Nachfolger. Von Rom aus regiert er die ganze Kirche.“
Die Frage, ob Petrus tatsächlich Bischof von Rom war, ist, wie man sieht, von fundamentaler Bedeutung für das Papsttum. Die Überlieferung, dass Petrus Bischof von Rom gewesen sei, ist jedoch in den einschlägigen Nachschlagewerken nicht unumstritten. Im Lexikon zur Bibel von Fritz Rienecker heißt es beispielsweise dazu: „Für die Annahme, dass Petrus 25 Jahre lang ,Bischof von Rom‘ gewesen sei, sind keine Anhaltspunkte vorhanden“ (1977, R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, Stichwort „Petrus“; alle Hervorhebungen durch uns).
Was können wir nun anhand der Bibel über den Zeitraum 41 bis 66 n. Chr. erfahren, als Petrus in Rom gewesen sein soll? Es gibt klare biblische Aussagen, die gegen diese Überlieferung sprechen:
• Das Konzil von Jerusalem (Apostelgeschichte 15) fand ca. 49 n. Chr. statt. Petrus war bei diesem Konzil anwesend und konnte deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht in Rom gewesen sein.
• Ein paar Jahre später besuchte Petrus seinen Apostelkollegen Paulus in Antiochia (Galater 2,11). Somit konnte Petrus auch zu diesem Zeitpunkt nicht in Rom gewesen sein, doch der Überlieferung nach hätte er schon ca. zwölf Jahre in Rom gewesen sein sollen.
• Um 55 n. Chr. (also fast fünfzehn Jahre nachdem Petrus in Rom hätte sein sollen) schrieb Paulus seinen Brief an die Christen von Rom, in denen er am Ende des Briefes 27 Personen Grüße ausrichtete. Nirgends aber erwähnt er Petrus. Sollte er den Apostel, der die Gemeinde in Rom gegründet hatte, einfach vergessen haben? Das wäre doch wohl eine außerordentliche Beleidigung gegenüber Petrus gewesen und hätte all die, die er gegrüßt hat, schockieren müssen.
• Als der Apostel Paulus ca. 61 n. Chr. als Gefangener in Rom eintraf, rief er die Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Rom zusammen (Apostelgeschichte 28,17-22). Diese hatten von der Lehre des Paulus bzw. dieser „Sekte“ zwar gehört, kannten aber nichts Genaues. Das Resultat war, dass Paulus diese Gruppe an einem vereinbarten Tag darüber belehrte. Die Juden hätten die Lehre ganz sicher gekannt, wenn Petrus zu diesem Zeitpunkt bereits über 20 Jahre in Rom gewesen wäre und gelehrt hätte.
Die Bibel selbst widerlegt die Tradition, wonach sich Petrus in Rom bereits ca. zehn Jahre nach der Kreuzigung Jesu aufgehalten haben soll. Damit entfällt eine der beiden Säulen, auf denen der Führungsanspruch des römischen Papstes beruht. (Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unserem kostenlosen Sonderdruck War Petrus der erste Bischof von Rom?, den wir Ihnen auf Anfrage gerne zusenden.)
Setzte Jesus den Apostel Petrus als Papst ein?
Sucht man in römisch-katholischen Nachschlagewerken nach einer Begründung für den Führungsanspruch des römischen Papstes, so stößt man ohne Ausnahme auf eine einzige Bibelstelle im Matthäusevangelium, die als Beweis für die Einsetzung des Petrus als erster Papst angeführt wird: Matthäus 16, Vers 18. Dort heißt es: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“
Die römisch-katholische Kirche interpretiert diesen Vers dahin gehend, dass Petrus der Fels ist, auf den Jesus seine Gemeinde baute. Sagt dieser Vers aber wirklich aus, dass Petrus als der erste Papst eingesetzt wurde bzw. dass Jesus eine pyramidenförmige Struktur für seine Kirche – eine Führung mit nur einem Mann an der Spitze – vorgesehen hat?
Ein wichtiges Prinzip der Bibelinterpretation ist, dass man Aussagen der Bibel in ihrem ursprünglichen Kontext analysieren soll. Der Aufhänger für Jesu Feststellung in Vers 18 ist eine Frage, die er seinen Jüngern gestellt hatte: „Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?“ (Vers 13). Jesu Jünger erzählten ihm, für wen die Menschen ihn hielten: für den auferstandenen Johannes den Täufer, für Elia, Jeremia oder einen der Propheten (Vers 14).
Dann fragte er sie: „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“ (Vers 15). Es war Petrus, der auf die Frage antwortete: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das [die Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes ist] nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Verse 16-17).
Als Reaktion auf das Bekenntnis des Petrus sagte Jesus dann: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“ (Vers 18).
In Vers 18 ist es offensichtlich, dass Jesus von der Gründung bzw. dem Aufbau seiner Gemeinde (Griechisch: ekklesia) redet. Worauf wollte er sie aber bauen?
Zunächst geht es darum, den griechischen Text von Vers 18 zu untersuchen. Gott inspirierte die Überlieferung des Neuen Testaments in der griechischen Sprache. Im griechischen Urtext von Vers 18 werden zwei unterschiedliche Wörter für „Petrus“ und „Fels“ benutzt: „Petrus ist im Griechischen ,Petros‘, Felsen dagegen ,Petra‘. Petros bedeutet: ein Stein, ein Stück eines Felsens. Petra ist der Fels selbst. Diese Stelle gibt also nicht den geringsten Grund für die Lehre, dass die Kirche auf Petrus gebaut und Petrus das Haupt der Kirche sei“ („76 Fragenbeantwortungen zum Thema ,Versammlung Gottes‘ “, Nr. 22, enthalten in Vorträge von H. L. Heijkoop 1968-73, CSV-Verlag, Hückeswagen, 1975).
Was ist denn in Vers 18 der Fels, auf den Jesus seine Kirche baute? „Manche konservativen Exegeten [sind] der Ansicht, dass Jesus seine Gemeinde auf sich selbst bauen wollte . . . Andere sind schließlich der Auffassung, dass die Gemeinde auf dem Zeugnis des Petrus [„Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“] errichtet ist. Am plausibelsten scheint [es], tatsächlich davon auszugehen, dass Jesus Petrus für seine richtige Aussage lobte und dann davon sprach, dass er die Gemeinde auf sich selbst errichten werde“ (Das Neue Testament erklärt und ausgelegt, herausgegeben von John F. Walvoord und Roy B. Zuck, Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart, 1992, Band IV, Seite 60; Hervorhebung des Originals).
Manche wenden aber ein, dass Jesus seine Worte wohl in der aramäischen Sprache gesprochen hat, in der es die Unterscheidung zwischen petros und petra nicht gibt. Der Punkt hier ist, dass Aramäisch nicht die Sprache ist, in der der Text des Neuen Testaments erhalten blieb. Griechisch ist die Sprache, die Gott für die Überlieferung des Neuen Testaments bestimmt hat, und diese wichtige Unterscheidung gibt es in der griechischen Sprache.
Man kann sich vorstellen, wie Jesus gestikuliert haben mag, als er Petrus sagte: „Du bist Petrus (auf Petrus zeigend), und auf diesen Felsen (auf sich selbst zeigend) will ich meine Gemeinde bauen.“
Das Zeugnis des Petrus
Interessant ist die Frage, wie Petrus selbst die Worte Jesu wohl verstanden hat. Als Petrus vor den jüdischen Hohen Rat wegen der Heilung eines Lahmen zitiert wurde, verwies er auf die Grundlage der Kirche, Jesus Christus: „Petrus, voll des heiligen Geistes, sprach zu ihnen: Ihr Oberen des Volkes und ihr Ältesten! Wenn wir heute verhört werden wegen dieser Wohltat an dem kranken Menschen, durch wen er gesund geworden ist, so sei euch und dem ganzen Volk Israel kundgetan:
Im Namen Jesu Christi von Nazareth, den ihr gekreuzigt habt, den Gott von den Toten auferweckt hat; durch ihn steht dieser hier gesund vor euch. Das ist der Stein, von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist. Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden“ (Apostelgeschichte 4,8-12).
Petrus verknüpft Jesus als Eckstein mit der Erkenntnis, dass die Errettung nur durch ihn möglich ist. Ca. 30 Jahre später wies er wieder auf dieses Fundament hin:
„Zu ihm [Jesus] kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift: Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden. Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses; sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind“ (1. Petrus 2,4-8).
An keiner Stelle im Neuen Testament zitiert Petrus Matthäus 16, Vers 18 als Beleg für sein angebliches Amt als Chefapostel, noch erhebt er gegenüber den anderen Aposteln jemals Anspruch auf eine solche Führungsposition. Im Gegenteil: Er nennt sich einen Mitältesten unter Ältesten und betont statt einen Führungsanspruch die Demut als wichtige Eigenschaft aller Ältesten: „Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist . . . Desgleichen, ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter. Alle aber miteinander haltet fest an der Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (1. Petrus 5,1-2. 5).
Addieren statt Subtrahieren
Ein weiteres wichtiges Prinzip der Bibelinterpretation ist, dass man alle Aussagen der Bibel zu einem Thema analysieren soll, anstatt diejenigen Stellen wegzulassen, die nicht zu der persönlichen Interpretation eines Verses passen. Dieses Prinzip dient auch der Klärung der Frage, ob Jesus in Matthäus 16, Vers 18 Petrus als obersten Führer der Kirche eingesetzt hat.
Wenige Monate nach dem Bekenntnis des Petrus stand die Kreuzigung Jesu bevor. Am Abend vor seinem Tod stritten sich seine Jünger darüber, wer von ihnen der Größte wäre: „Es erhob sich auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten solle. Er aber sprach zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener. Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient? Ist’s nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener“ (Lukas 22,24-27).
Da Jesus die Mentalität seiner Jünger mit der weltlicher Herrscher verglich, denen ihre Position bzw. Autorität wichtig ist, ging es hier offensichtlich um einen Rangstreit unter den Jüngern. Außerdem wird im griechischen Urtext bei Johannes dasselbe Wort benutzt, das hier bei Lukas mit „der Größte“ übersetzt wurde, um die höhere Stellung des Vaters gegenüber Jesus im Sinne einer Rangordnung darzustellen: „Der Vater ist größer als ich“ (Johannes 14,28).
Wenn Jesus nur wenige Monate zuvor Petrus als obersten Apostel eingesetzt hatte, warum gab es an diesem Abend einen Rangstreit unter den Jüngern? Es hätte eigentlich klar sein müssen, dass Petrus an der Spitze der Kirche stehen sollte! Wenn es ihnen nicht klar gewesen wäre, hätte Jesus diese Gelegenheit nutzen können, um sie über seine Ernennung des Petrus zum Chefapostel zu informieren.
Darüber hinaus gibt es keine Bibelstelle im Neuen Testament, die Petrus als das Fundament der Kirche identifiziert und damit die römisch-katholische Interpretation von Matthäus 16, Vers 18 bestätigen würde. Im Gegenteil: Wenn es um das Fundament der Kirche geht, wird entweder auf Jesus oder auf die Apostel insgesamt hingewiesen.
Bei seiner vergleichenden Beschreibung der Arbeit der Ältesten als Baumeister nennt Paulus Jesus das Fundament der Kirche: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Korinther 3,9-11).
Im gleichen Brief an die Gemeinde zu Korinth identifiziert Paulus Jesus als den Felsen, der die Israeliten einst geistlich tränkte: „Ich will euch aber, liebe Brüder, nicht in Unwissenheit darüber lassen, dass unsre Väter alle unter der Wolke gewesen und alle durchs Meer gegangen sind; und alle sind auf Mose getauft worden durch die Wolke und durch das Meer und haben alle dieselbe geistliche Speise gegessen und haben alle denselben geistlichen Trank getrunken; sie tranken nämlich von dem geistlichen Felsen [Griechisch: petra], der ihnen folgte; der Fels [Griechisch: petra] aber war Christus“ (1. Korinther 10,1-4).
Außerdem macht Paulus klar, dass nicht Petrus allein, sondern die Apostel gemeinsam mit Jesus und den Propheten das Fundament der Kirche darstellen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn“ (Epheser 2,19-21).
Bei der Beschreibung der neuen Stadt Jerusalem bestätigt die Offenbarung die Gemeinsamkeit der Apostel als symbolisches Fundament der Kirche: „Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes“ (Offenbarung 21,14). Auch hier sieht man, dass Petrus keine Vorrangstellung hat.
Das Prinzip des „Addierens“ – des Heranziehens aller Bibelstellen zum Thema – bei der Frage, wie Matthäus 16, Vers 18 zu verstehen ist, weist eindeutig auf Jesus als den Fels hin, auf dem die Kirche Gottes aufgebaut wurde und wird.
Das Zeugnis des Paulus
Die Bekehrung des Paulus zeugt von der Macht Gottes, auf die Menschen einzuwirken und diejenigen zu berufen, die er berufen will. Auf dem Weg nach Damaskus mit dem Ziel der Christenverfolgung wurde der Pharisäer Saulus zu Boden geschlagen und drei Tage später getauft. Jesus offenbarte den zukünftigen Auftrag des späteren Apostels: „Dieser [Paulus] ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel“ (Apostelgeschichte 9,15).
Nach seiner Bekehrung verbrachte Paulus anscheinend drei Jahre in Arabien, bevor er das erste Mal nach seiner Bekehrung nach Jerusalem zurückkehrte (Galater 1,17-18). In diesen drei Jahren wurde er von Jesus Christus persönlich unterrichtet: „Denn ich tue euch kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ (Galater 1,11-12).
Demnach hatte Paulus eine ähnliche Ausbildung wie die ursprünglichen Apostel, die ca. dreieinhalb Jahre mit Jesus in der Zeit seines öffentlichen Wirkens umherzogen. Als die Zeit in Arabien zu Ende war, reiste Paulus nach Jerusalem, doch die Apostel und die Gemeinde dort waren skeptisch: „Als er aber nach Jerusalem kam, versuchte er, sich zu den Jüngern zu halten; doch sie fürchteten sich alle vor ihm und glaubten nicht, dass er ein Jünger wäre“ (Apostelgeschichte 9,26).
Dank der Vermittlung des Barnabas war es Paulus möglich, von der Gemeinde in Jerusalem aufgenommen zu werden: „Barnabas aber nahm ihn zu sich und führte ihn zu den Aposteln und erzählte ihnen, wie Saulus auf dem Wege den Herrn gesehen und dass der mit ihm geredet und wie er in Damaskus im Namen Jesu frei und offen gepredigt hätte“ (Vers 27).
Bei diesem Besuch lernte er die Apostel Petrus und Jakobus kennen (Galater 1,18-19). Es ist interessant, wenn Petrus wirklich der Chefapostel gewesen sein soll, dass Gott ihm die Bekehrung des Paulus und den Auftrag, den er ausführen sollte, nicht offenbart hatte. Davon wusste Petrus nichts, denn er gehörte zu denen, die zunächst Angst vor Paulus hatten.
Noch wichtiger ist aber, dass Jesus in der Zeit, als er Paulus persönlich unterrichtete, ihn nicht über die angeblich bereits bestehende Struktur in der Gemeinde informierte. Er klärte ihn offensichtlich nicht darüber auf, dass die Gemeinde auf Petrus aufgebaut werden sollte.
Das geht zum einen aus den bereits zitierten Abschnitten aus den Paulusbriefen hervor, in denen Paulus entweder Jesus oder die Apostel gemeinsam als das Fundament der Kirche bezeichnete. Zum anderen sehen wir, wie Paulus seine Apostelkollegen bei ihrer Zusammenarbeit beschrieb.
Vierzehn Jahre nach seinem ersten Besuch in Jerusalem als Christ reiste Paulus wieder dorthin, um eine Bestätigung seiner Vorgehensweise beim Predigen des Evangeliums zu erhalten: „Ich zog aber hinauf aufgrund einer Offenbarung und besprach mich mit ihnen über das Evangelium, das ich predige unter den Heiden, besonders aber mit denen, die das Ansehen hatten, damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“ (Galater 2,2).
Paulus beschrieb das Ergebnis der Beratungen wie folgt: „Von denen aber, die das Ansehen hatten – was sie früher gewesen sind, daran liegt mir nichts; denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht –, mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt. Im Gegenteil, da sie sahen, dass mir anvertraut war das Evangelium an die Heiden so wie Petrus das Evangelium an die Juden – denn der in Petrus wirksam gewesen ist zum Apostelamt unter den Juden, der ist auch in mir wirksam gewesen unter den Heiden –, und da sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand und wurden mit uns eins, dass wir unter den Heiden, sie aber unter den Juden predigen sollten“ (Galater 2,6-9).
Aus diesen Versen geht hervor, dass das Amt, das Paulus gegenüber den Heiden erhalten hatte, dem Amt gleichwertig war, das Petrus gegenüber den Juden erhalten hatte. Außerdem zeigt dieser Abschnitt, dass Petrus nicht der Chefapostel, sondern einer von drei führenden Aposteln war, die Paulus „Säulen“ nannte. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Petrus – „Kephas“ – in der Reihenfolge der drei genannten Apostel nicht als Erster erwähnt wird: „Jakobus und Kephas und Johannes“.
Das Wirken von Paulus umfasst mehr als die Hälfte der Apostelgeschichte, die unser einziges biblisches Geschichtsbuch über die frühe Kirche ist. Ein weiterer Aspekt des Zeugnisses von Paulus ist die Tatsache, dass er dreizehn der 27 Bücher des Neuen Testaments verfasste. Nur zwei Briefe von Petrus sind im Neuen Testament enthalten. In seinen Briefen schrieb Paulus zehnmal so viel Text wie Petrus.
Wenn Petrus der Chefapostel der neutestamentlichen Gemeinde gewesen ist, dann hat Paulus diese Funktion seines Apostelkollegen nicht erkannt bzw. sie wurde ihm nicht offenbart.
Die Zusammenarbeit der Apostel als Kollegium
Die Apostel und Ältesten der frühen Kirche funktionierten nicht als strenge Hierarchie. Stattdessen sehen wir verschiedene Beispiele der Zusammenarbeit als Kollegium.
Als die Gemeinde in Jerusalem zahlenmäßig so groß geworden war, dass die Apostel mit der täglichen Versorgung der Witwen nicht mehr fertig wurden, war es nicht Petrus, sondern die Apostel als Gruppe, die eine Lösung vorschlugen. „Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut“ (Apostelgeschichte 6,2-5).
Später reiste Philippus, einer der sieben Männer, die die Gemeinde als Diakone ausgewählt hatte, nach Samarien und predigte dort das Evangelium: „Philippus aber kam hinab in die Hauptstadt Samariens und predigte ihnen von Christus. Und das Volk neigte einmütig dem zu, was Philippus sagte, als sie ihm zuhörten und die Zeichen sahen, die er tat“ (Apostelgeschichte 8,5-6).
Da Philippus als Erster das Evangelium in Samarien predigte, schickten die Apostel in Jerusalem Verstärkung dorthin. Wieder wurde die Entscheidung nicht von Petrus, sondern von den Aposteln getroffen: „Als aber die Apostel in Jerusalem hörten, dass Samarien das Wort Gottes angenommen hatte, sandten sie zu ihnen Petrus und Johannes“ (Apostelgeschichte 8,14). In diesem Fall wurde Petrus sogar von seinen Apostelkollegen entsandt.
Das vielleicht interessanteste Beispiel der Zusammenarbeit der Apostel und Ältesten ist das Jerusalemer Konzil, das 49 n. Chr. stattfand. Der Anlass für die Konferenz war die Behauptung einiger strenggläubiger Judenchristen, dass sich die Heidenchristen beschneiden lassen müssten, um das ewige Leben erhalten zu können: „Und einige kamen herab von Judäa [nach Antiochia] und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach der Ordnung des Mose, könnt ihr nicht selig werden“ (Apostelgeschichte 15,1).
Paulus und Barnabas widersetzten sich zwar diesen Judenchristen, kamen aber zu keinem Ergebnis. Daher wurde entschieden, dass nicht Petrus, sondern den Aposteln und Ältesten in Jerusalem diese Streitfrage vorgelegt werden sollte: „Als nun Zwietracht entstand und Paulus und Barnabas einen nicht geringen Streit mit ihnen hatten, ordnete man an, dass Paulus und Barnabas und einige andre von ihnen nach Jerusalem hinaufziehen sollten zu den Aposteln und Ältesten um dieser Frage willen“ (Vers 2).
In Jerusalem bekräftigten die strenggläubigen Juden ihren Standpunkt: „Da traten einige von der Partei der Pharisäer auf, die gläubig geworden waren, und sprachen: Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz des Mose zu halten. Da kamen die Apostel und die Ältesten zusammen, über diese Sache zu beraten“ (Verse 5-6).
Petrus trug seinen Standpunkt vor (Verse 7-11), ebenso berichteten Paulus und Barnabas über ihre Arbeit unter den Heiden (Vers 12). Doch es war Jakobus, der Bruder des Herrn und der Pastor der Jerusalemer Gemeinde, der den Standpunkt zusammenfasste, der in der Frage der Beschneidung von den versammelten Aposteln und Ältesten adoptiert wurde. „Danach, als sie schwiegen, antwortete Jakobus und sprach: Ihr Männer, liebe Brüder, hört mir zu! . . . Darum meine ich, dass man denen von den Heiden, die sich zu Gott bekehren, nicht Unruhe mache“ (Apostelgeschichte 15,13. 19).
Der Beschluss der in Jerusalem versammelten Apostel und Ältesten war „einmütig“ und spiegelt den Konsens unter den Aposteln wider, die ein wesentlicher Teil des Fundaments waren, auf dem sich die Kirche aufbaute (Epheser 2,20).
War Petrus denn keine Führungskraft?
Dass die Apostel als Kollegium zusammengearbeitet haben, bedeutet keineswegs, dass Petrus keine Führungskraft war. Zweifelsohne dominierte Petrus aufgrund seiner Persönlichkeit unter den zwölf Aposteln. Er war meist derjenige, der zuerst aktiv wurde (wenn auch manchmal etwas unüberlegt), der zuerst Christi Fragen beantwortete, der versuchte, übers Wasser zu gehen. Er war derjenige, der vorschlug, einen Ersatz für Judas zu finden, der das Predigen am Pfingsttag anführte, der den lahmen Bettler ansprach und sich im Glauben an Christus wandte und um seine Heilung bat, der Ananias’ und Sapphiras’ Täuschung verurteilte und Simon, den Zauberer, mit seinem Versuch, ein Amt käuflich zu erwerben, scharf zurechtwies.
„Wir wissen, dass Simon Petrus der Anführer der [ersten] Apostel war – und das nicht nur deshalb, weil sein Name bei jeder Auflistung der Zwölf als Erster genannt wird. Wir haben außerdem die klare Aussage in Matthäus 10,2: ,Die Namen der zwölf Apostel aber sind diese: Der erste Simon, der Petrus genannt wird.‘ Der griechische Ausdruck protos wird hier mit dem Wort ,erste‘ übersetzt. Er bezieht sich nicht auf den Ersten in einer Liste, sondern auf den Leiter, den Anführer einer Gruppe. Außerdem wird Petrus’ Leiterschaft dadurch deutlich, dass er normalerweise als Sprecher der Gesamtgruppe fungiert. Er steht immer im Vordergrund und übernimmt die Führung. Anscheinend besaß er von Natur aus eine dominante Persönlichkeit, und der Herr gebrauchte sie zum Nutzen der Zwölf“ (Zwölf ganz normale Menschen, John MacArthur, Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld, 2005, Seite 52-53).
Viele Kommentare und Wörterbücher stimmen in Bezug auf Matthäus 10, Vers 2 darin überein, dass protos so etwas wie herausragend oder hauptsächlich bedeutet. Jesus wusste, dass Petrus aufgrund seiner dominanten Persönlichkeit ein natürliches Führungstalent hatte. Deshalb erwartete er, dass Petrus die anderen Apostel stärkte: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder“ (Lukas 22,31-32).
Wie dieser Beitrag jedoch zeigt, kann man daraus nicht ableiten, dass Jesus Petrus die Funktion eines Chefapostels übertrug. Die Bibel zeigt uns, dass Petrus keineswegs unfehlbar war. Unmittelbar nach Jesu Ankündigung, er würde seine Gemeinde bauen, musste er Petrus wegen einer verkehrten Haltung zurechtweisen:
„Seit der Zeit fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, wie er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fuhr ihn an und sprach: Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht! Er aber wandte sich um und sprach zu Petrus: Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Matthäus 16,21-23).
Bei einer anderen Gelegenheit wies Paulus Petrus öffentlich zurecht, als Petrus es ablehnte, gemeinsam mit den Heidenchristen in Antiochia zu essen. „Als aber Kephas nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn. Denn bevor einige von Jakobus kamen, aß er mit den Heiden; als sie aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus dem Judentum fürchtete. Und mit ihm heuchelten auch die andern Juden, sodass selbst Barnabas verführt wurde, mit ihnen zu heucheln. Als ich aber sah, dass sie nicht richtig handelten nach der Wahrheit des Evangeliums, sprach ich zu Kephas öffentlich vor allen“ (Galater 2,11-14).
Manche wenden aber ein, dass Matthäus 16, Vers 19 ein Beleg für die Autorität des Petrus ist: „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“
Das New Bible Dictionary kommentiert: „Petrus hat diese Vollmacht hier als Erster erhalten, so wie er auch den Hirtenauftrag, Christi Herde zu weiden, als Erster erhalten hat (Johannes 21,15), aber er erhielt dies in einer repräsentativen, statt in einer persönlichen Eigenschaft; denn als der Auftrag in Matthäus 18, Vers 18 wiederholt wird, wird die Autorität, den Dienst der Versöhnung auszuüben, der Gemeinschaft der Jünger als Ganzes übertragen.
Demnach ist es die treue Gemeinde, statt eine Einzelperson, die in Christi Namen handelt, um das Reich den Gläubigen zu eröffnen und es gegen Unglauben zu verschließen. Nichtsdestoweniger wird diese autoritative Funktion vor allem von den Predigern des Wortes ausgeübt und der Prozess des Aussiebens, der Bekehrung und der Ablehnung kann seit der ersten Predigt des Petrus beobachtet werden (Apostelgeschichte 2,37-41)“ (I. Howard Marshall, Hrsg., InterVarsity Press, 1996).
Das bereits erwähnte Jerusalemer Konzil des Jahres 49 n. Chr. impliziert, dass Petrus nicht die oberste Instanz der kirchlichen Hierarchie war, wie einige meinen. Wenn allein Petrus die Autorität zum Binden und Lösen hatte, warum musste ein Konzil einberufen werden, um über eine doktrinäre Frage zu beraten und eine Entscheidung zu treffen? Wenn Petrus der Chefapostel war, warum war es Jakobus, der den versammelten Ältesten den Beschluss des Konzils vorlegte?
Petrus war der Primus inter Pares, der Erste unter Gleichen, aber ohne Vorrang – ein Führer unter den ersten Aposteln. Er war ein hoch angesehener Apostel, durch den Gottes Geist mächtig wirkte. Doch wir finden in der Bibel keine Beweise, wonach Petrus als Apostel über die anderen gestellt war, noch hat er überhaupt solche Autorität für sich in Anspruch genommen.
Die Stellung Roms in der frühen Kirchengeschichte
Bei den eingangs erwähnten ökumenischen Gesprächen wünschen sich die Kirchen der östlichen Orthodoxie in Bezug auf die Behandlung des Papsttums eine Differenzierung zwischen der geschichtlichen Situation des ersten und des zweiten christlichen Jahrtausends. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Führungsanspruch des römischen Papstes lässt sich nicht lückenlos auf die ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte zurückverfolgen.
Die Verwaltungsstruktur des Römischen Reiches lieferte das Muster für die Organisation der römischen Staatskirche mit ihren fünf Patriarchaten. Dabei umfasste das römische Patriarchat das gesamte Gebiet des weströmischen Reiches. Die Theologen der östlichen Orthodoxie haben kein Problem mit der Feststellung, dass das römische Patriarchat in der frühen Kirche gegenüber den anderen Patriarchaten ein Ehrenprimat oder „Primat der Liebe“ hatte. Doch es war eine Ehrenstellung im Sinne eines Primus inter Pares („Erster unter Gleichen“), womit weder ein qualitativ höherer Rang noch das Recht, ungebeten in die inneren Angelegenheiten anderer Patriarchate einzugreifen, einherging.
Die orthodoxe Sicht zum frühen Verhältnis der Patriarchate untereinander spiegelt die Meinung heutiger Bibelexperten wider in Bezug auf die Stellung von Petrus gegenüber den anderen Aposteln: „Wenn wir das Neue Testament aufgeschlossen untersuchen, finden wir eine ganz andere Sicht der kirchlichen Autorität als die, die sich in der [späteren] Kirche etablierte . . . Offen gesagt gab es in der neutestamentlichen Gemeinde nie das Beispiel eines Mose bzw. eines ,Papst Petrus‘, der die anderen Apostel und Ältesten überragte bzw. ihnen Befehle erteilte . . . Man sieht, dass Petrus unter den ursprünglichen zwölf Aposteln die Führung übernahm und – obwohl das nie deutlich gesagt wird – als Hauptredner und Führer anerkannt war. Christus benutzte Petrus, um die Hauptpredigt zu Pfingsten zu halten (Apostelgeschichte 2), den Lahmen vor dem Eingang des Tempels zu heilen (Apostelgeschichte 3), den Heiden die ,Tür des Glaubens‘ zu öffnen (Apostelgeschichte 10) usw.
Doch man liest nicht, dass er den anderen Aposteln Befehle erteilte, sie zum Predigen aussandte oder in irgendeiner Weise ihnen gegenüber den Herren zu spielen versuchte . . . Petrus war nicht der Papst! Er entschied nicht eigenmächtig irgendeine der grundlegenden Angelegenheiten in der neutestamentlichen Gemeinde“ (Church Government and Church Unity, Roderick C. Meredith, 1993, Seite 10-12).
Der Führungsanspruch Roms gegenüber den anderen Patriarchaten war nicht die einzige Entwicklung, die sich erst viele Jahre nach dem Ableben der ersten Christengeneration zeigte. Die heutige römisch-katholische Interpretation von Matthäus 16, Vers 18, mit der das vermeintliche Papstamt des Petrus begründet wird, war den frühen Kirchenvätern unbekannt.
Das beste Beispiel hierfür ist der Vater der kirchlichen Geschichtsschreibung, Eusebius von Caesarea, der den Abschnitt in Matthäus in seinen Kommentaren zu den Psalmen erwähnt. Darin hält er Christus selbst für das Fundament der Kirche und folgt damit den einschlägigen Aussagen des Apostels Paulus in 1. Korinther 3, Vers 11 und Epheser 2, Vers 20 („Commentaria in Psalmos“, PG 23, col.173, 176). Der Kommentar von Eusebius ist von besonderer Bedeutung, da seine Meinung als einflussreicher Kirchenlehrer wohl die Sicht der Kirche insgesamt darstellte.
Doch Papst Leo I. (440–461) berief sich auf Petrus und Matthäus 16, Vers 18, um seinen Führungsanspruch für die gesamte Kirche zu begründen. Dank dem römischen Erbrecht erhob er den Bischof von Rom zum gesetzlichen Erben des Apostels Petrus. Beim Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.) wurde jedoch dem Patriarchat von Konstantinopel ein Ehrenprimat zuerkannt, ohne dass der Papst eine juristische Hoheit erhielt. Daher erkannte Leo I. das Konzil erst zwei Jahre später an.
Die Nachfolger Leos erhoben wiederholt Anspruch auf die juristische Führung der gesamten Kirche. Aus diesem Grund gestalteten sich die Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel zunehmend schwierig und konnten zuletzt nicht mehr harmonisiert werden. 1054 kam es zum Bruch, zum berühmten „Schisma“ zwischen der Ost- und Westkirche, der bis heute unüberwunden bleibt.
Der Ursprung der Trennung liegt in der unterschiedlichen Interpretation von Matthäus 16, Vers 18, die einerseits den Führungsanspruch des römisch-katholischen Papstes begründen soll, andererseits als Legitimation für eine Vorrangsstellung Roms abgelehnt wird.
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“
In seiner Bergpredigt wies Jesus Christus auf ein wichtiges Prinzip für die Beurteilung von Personen bzw. Situationen hin: „Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,18-20).
Was sind die Früchte des Führungsanspruchs des römischen Papstes? Seit mehr als 1500 Jahren sind sie eine Quelle des Streits und der Uneinigkeit unter Christen. Wie die ökumenischen Gespräche der letzten Jahre zeigen, hat sich an dieser Situation nichts geändert.
Dieser Zustand sollte uns nicht überraschen. Die Bibel zeigt, dass der Anspruch auf Führung unter Christen Streit auslöst: „Es kam unter ihnen [den Jüngern] auch ein Streit darüber auf, wer von ihnen als der Größte zu gelten habe“ (Lukas 22,24; Gute Nachricht Bibel). Jesus wies seine Jünger zurecht und klärte sie darüber auf, wie Gott Größe sieht: „Bei euch muss es anders sein! Der Größte unter euch muss wie der Geringste werden und der Führende wie einer, der dient“ (Vers 26; ebenda).
Die Apostel und Ältesten des Neuen Testaments beherzigten die Ermahnung Jesu. Ihre Zusammenarbeit war kollegial, anstatt von Rangstreit geprägt zu sein. „Die Vorgehensweise der ursprünglichen Apostel und Ältesten orientierte sich nicht an der Frage: ,Wer ist hier der Chef? Ich muss mich unterordnen, sonst werde ich meines Amtes enthoben!‘ Stattdessen war ihre Vorgehensweise die, wie sie Petrus später wie folgendermaßen beschrieb: ,Alle aber miteinander haltet fest an der Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade‘ (1. Petrus 5,5)“ (Church Government and Church Unity, a. a. O., Seite 12).
Fazit: Jesus Christus ist der Fels, das große unbewegliche Fundament, auf das die wahre Kirche Gottes gebaut ist. Wer sich an ihm und seinem Beispiel des Dienens orientiert, anstatt einen Anspruch auf Führung zu erheben, fördert die Einigkeit im Leib Christi.