Historiker haben bei den meisten großen Zivilisationen festgestellt, daß sie zur Zeit ihres Aufstiegs einen relativ strengen moralischen Verhaltenskodex hatten.
Von Paul Kieffer
Israels König Salomo stellte vor ca. 3000 Jahren fest, daß sich die menschliche Geschichte wiederholt. In Prediger 1, Vers 9 lesen wir: „Im Grunde gibt es überhaupt nichts Neues unter der Sonne. Was gewesen ist, das wird wieder sein; was getan wurde, das wird wieder getan“ (Gute Nachricht Bibel). Seine Worte treffen auch auf das Sexualverhalten des Menschen in seiner fast 6000jährigen Existenz zu. Historiker haben bei den meisten großen Reichen und Zivilisationen festgestellt, daß sie zur Zeit ihres Aufstiegs einen relativ strengen moralischen Verhaltenskodex besaßen, auch in Fragen der Sexualität. Dann, als der Höhepunkt der Macht erreicht war, lockerten sich diese Normen. Anschließend wurde der Abstieg meist durch einen allgemeinen moralischen Verfall in der Gesellschaft begleitet.
Über die Ära vor der Sintflut – ein Zeitraum von 1656 Jahren – erfahren wir in der Bibel nur wenig. Wir wissen aber, daß sich die Menschen vor der Flut bis auf Noah von den Wegen Gottes und seinen Moralvorstellungen gänzlich distanziert hatten: „Der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar“ (1. Mose 6,5; alle Hervorhebungen durch uns).
Bereits fünf Generationen nach der Geburt des ersten Menschenkindes – Kain – lesen wir über einen seiner Nachkommen, der anscheinend als erster zwei Frauen hatte. „Lamech ... nahm zwei Frauen, eine hieß Ada, die andere Zilla“ (1. Mose 4,19). Damit war man von dem Idealbild der Ehe gewichen, das Gott gleich zu Beginn der menschlichen Existenz gegeben hatte und später von Jesus Christus bestätigt wurde: ein Mann und eine Frau (1. Mose 2,24; Matthäus 19,4-6). Gott schuf nämlich nicht zwei Männer bzw. zwei Frauen, oder einen Mann und zwei Frauen.
Mit der Zunahme der Erdbevölkerung in den nachfolgenden Generationen bis zur Zeit Noahs geriet Gottes ursprüngliche Bestimmung für die Sexualität immer mehr in Vergessenheit. In seiner Prophezeiung auf dem Ölberg, in der es um die Zeichen der Endzeit geht, verglich Jesus die Zeit Noahs mit der Endzeit. „Denn wie es in den Tagen Noahs war, so wird auch sein das Kommen des Menschensohns. Denn wie sie waren in den Tagen vor der Sintflut – sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten bis an den Tag, an dem Noah in die Arche hineinging“ (Matthäus 24,37-38).
Jesu Vergleich hat in erster Linie sicherlich mit der Sorglosigkeit der Menschen zu tun, die Noahs Warnungen nicht beachteten. Genauso wird es in der Zeit vor Jesu Wiederkehr sein. Ist das aber der einzige Vergleich zwischen diesen beiden Zeitaltern, der möglich ist?
Essen und trinken sind an sich legitime menschliche Bedürfnisse, und dasselbe kann man in bezug auf die Ehe feststellen. Von dem wachsenden Anteil an Übergewichtigen in unseren westlichen Industrieländern ausgehend könnte man Rückschlüsse auf die Zeit Noahs ziehen. Damals gab es zweifellos auch viele Menschen, die im Übermaß bzw. in fleischlicher Begierde gegessen haben.
Gemessen an heutigen Trends wären Scheidung und Wiederheirat, „Lebensabschnittspartner“, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften und andere Formen der Sexualität, die von den Vorgaben der Bibel abweichen, zu Noahs Lebzeiten an der Tagesordnung gewesen. Die Bibel enthält jedoch keine Einzelheiten über diesen Abschnitt der Menschheitsgeschichte, sieht man von Gottes Feststellung ab, „daß der Menschen Bosheit groß war“. Nehmen wir daher den Faden der „Sexualgeschichte“ nach der Sintflut wieder auf.
Sex im antiken Ägypten
Die eingangs zitierte Weisheit von König Salomo, wonach es wirklich nichts Neues gibt, bestätigt sich in bezug auf das Sexualverhalten der Menschen am Beispiel der alten Ägypter. Die „moderne“ Moral von heute war schon zur Zeit der frühen ägyptischen Dynastien verbreitet. Kennt man sich mit ägyptischen Hieroglyphen aus, dann weiß man, daß freizügige Darstellungen von Sex nicht erst in unserer Zeit erfunden wurden.
Die Frau wurde oft als diejenige dargestellt, von der sexuelle Avancen ausgingen, wie sich durch viele Beispiele in The Literature of Ancient Egypt (Yale Union Press, 1972) belegen läßt. Schon in 1. Mose 39 findet sich ein eindringliches Beispiel einer solchen ägyptischen Verführerin: Potifars Frau, die Gefallen an dem jungen Josef gefunden hatte.
Sexualität spielte auch in der ägyptischen Magie und Zauberei eine Rolle. Priester, manchmal als Götter verkleidet, nutzten leichtgläubige Frauen oft sexuell aus. So soll zum Beispiel Königin Hatschepsut von ihrer Mutter und dem Gott Amon gezeugt worden sein, aber es war wohl kaum eine „unbefleckte Empfängnis“ (siehe Ancient Records of Egypt von James Henry Breasted, 1906, Band II, Seite 80).
In späteren Dynastien war Inzest so alltäglich, daß viele Pharaonen schon früh an durch Inzucht hervorgerufenen Mißbildungen starben. Ein Beispiel ist der bekannte Pharao Tut-ench-Amun; er starb im Alter von achtzehn Jahren, wahrscheinlich an einer Erbkrankheit.
Das antike Griechenland
Die alten Griechen vergötterten geradezu den menschlichen Körper, besonders dessen männliche Form. Die Athleten der ersten olympischen Spiele traten nackt auf. Wie die Ägypter glaubten die Griechen, daß ihre Götter durch Inzestehen zwischen anderen Göttern hervorgebracht wurden. Die „Theogonie“ (wörtlich: „Götterzeugung“) des im 8. Jahrhundert v. Chr. lebenden griechischen Dichters Hesiod berichtet von Paarungen, Inzest, Vergewaltigungen und Orgien, aus denen die griechische Götterwelt, das „Pantheon“, hervorgegangen sein soll.
In Wirklichkeit spiegelten diese Göttermythen lediglich die Fantasien und Praktiken der Griechen wider. Das antike Symposion war nicht nur eine literarische Diskussion, sondern auch ein Trinkgelage und eine Sexorgie für Männer. Es gab eine Menge Bordelle. Man nannte die besseren, gebildeten Freudenmädchen für die militärische und geistige Oberschicht „Hetären“ (den heutigen Callgirls vergleichbar).
Manche griechischen Männer gaben sich bekanntlich mit weiblichen Sexpartnerinnen nicht zufrieden. Sie hatten auch ihre „Knaben“. Im alten Griechenland hielt man den Menschen für von Natur aus bisexuell. Eine Beziehung zwischen einem älteren Gelehrten und einem jüngeren Mann war nichts Ungewöhnliches. Eine ganze Reihe griechischer Philosophen unterhielt offene Beziehungen zu solchen jungen Männern.
Der Gesetzgeber Solon legalisierte als erster griechischer Staatsmann die „Knabenliebe“ (Päderastie) und gab denen, die Homosexualität praktizierten, Macht und Einfluß im Staat. Im militaristischen Sparta hatten Knaben schon im Alter von zwölf Jahren einen älteren „Liebhaber“, meist ihren militärischen Vorgesetzten.
Die Homosexualität im antiken Griechenland beschränkte sich keineswegs auf Männer. Auf der Insel Lesbos z. B. lebten ausschließlich homosexuelle Frauen (daher unsere Vokabel „Lesben“ bzw. „lesbisch“). Die Dichterin Sappho unterhielt auf Lesbos eine eigene Schule für ihre Liebhaberinnen.
Lesen wir, wie der griechische Rhetoriker Diogenes die Moral in Griechenland beschrieb:
„Diogenes führte bei den Kynikern die Mode der öffentlichen Masturbation ein und betrachtete Inzest als ganz normal ... Geschlechtsverkehr findet mit denen statt, die Befriedigung suchen ... Auch meinte Diogenes, Geschlechtsverkehr sollte eine Sache gegenseitigen Einverständnisses zwischen den Partnern sein. Wenn ein Mann eine Frau zur Einwilligung bewegen kann, sind die Voraussetzungen schon erfüllt ... Die einzige Ehegrundlage, die er anerkennt, ist die beiderseitige Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr. Männer sollten mit vielen Frauen verkehren dürfen; Frauen sollten Gemeingut sein – vermutlich Gemeingut so vieler oder so weniger Männer, wie sie wollten. Natürlich erlaubt Diogenes auch homosexuelle Beziehungen ... Die Ansicht der Kyniker geht dahin, daß, zumindest unter den Weisen, freie Partnerwahl die Ausgangsbasis jeder Handlung und jeder Beziehung sein soll ... dieselben Rechte gelten auch für Frauen“ (J. M. Rist, Stoic Philosophy, Cambridge University Press, 1969, Seite 56-60).
Nach dieser Beschreibung hat unsere Moral heute erst den Stand von vor 2300 Jahren erreicht!
Das Römische Reich
Die frühe römische Republik ist ein gutes Beispiel für die strengen moralischen Grundsätze, die dazu beitrugen, daß Rom zu einer Weltmacht heranwuchs. Doch später, zur Kaiserzeit, lockerte sich die Moral in bedeutender Weise. Seneca, der römische Philosoph, schrieb: „Alles Streben gilt der Lust, und ihre Befriedigung ist der wichtigste gemeinsame Faktor im sozialen Gefüge.“
Die Kaiser selbst statuierten oft ein besonderes Exempel an Zügellosigkeit. Nero beispielsweise, der unter anderem blutschänderische Beziehungen zu seiner Mutter unterhielt, ließ einmal einen Knaben namens Sporus einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung unterziehen. Mit diesem „Zwitter“ hielt er dann eine regelrechte Hochzeit ab, mit Brautschleier und allem, was dazugehörte.
Später, als homosexuelle Praktiken ihn nicht mehr befriedigten, verkleidete sich Nero als Raubtier und fiel über Männer und Frauen her, die er an einen Pfahl hatte binden lassen. Schließlich konnte nicht einmal mehr solcher Sadismus den Kaiser in sexuelle Erregung versetzen.
Nero stand keinesfalls allein da, obwohl sein Name noch heute kennzeichnend ist für die Verdorbenheit der römischen Oberschicht. Auch Caligula beging Blutschande und andere Perversionen. Kaiser Hadrian heiratete einen jungen griechischen Diener, und Orgien waren am Kaiserhof an der Tagesordnung. Schließlich wurden Jungfrauen so rar, daß sieben- bis zehnjährige Mädchen – die einzigen noch verbliebenen Jungfrauen – in den „Dienst“ des Kaisers verpflichtet werden mußten.
Auch Abtreibungen scheinen nicht erst heute ein Thema gewesen zu sein. Der römische Dichter Juvenal schrieb: „So fein ist die Kunst, so stark sind die Drogen des Abtreibers.“ Auch das heutige Phänomen der Transsexualität war in Rom bekannt. „Männliche und weibliche Zwitter ... wollten sich völlig zu Frauen verwandeln und gingen daran, ihre Geschlechtsorgane zu verstümmeln“ (Philon, „De specialibus legibus“, III, 39-42).
Der allgemeine sittliche Verfall im alten Rom trug maßgeblich zum Untergang des Römischen Reiches bei.
„Minnesang“ und Prüderie
Im Frankreich des zwölften Jahrhunderts nahm die hochromantische Liebe ihren Anfang. Frauen wurden nicht als Sexualobjekte betrachtet, sondern zu geheimnisvollen, edlen Wesen idealisiert, deren Gunst es durch Heldentaten zu gewinnen galt. Kühne Ritter bekämpften mythische Drachen, Riesen, böse Zauberer; sie überwanden Berge, Flüsse und bewachten Burgmauern und scheuten auch den Tod nicht, wenn es darum ging, die Huld der Angebeteten zu erlangen.
Diese Liebesauffassung hatte allerdings mit Ehe und Familie bzw. der Realität des Lebens kaum etwas zu tun. Wirkliche Märchenprinzen gab es – wenn überhaupt – nur selten, und noch seltener waren die, die sich mit einer einzigen Eroberung zufriedengaben. Um das Jahr 1200 schrieb Andreas Capellanus in seinem Werk „Die Kunst der höfischen Liebe“, daß es „Liebe zwischen Eheleuten nicht geben kann“.
Dem Leser historischer Romane sind mittelalterliche Palastintrigen und Hofromanzen beim Hochadel von Frankreich, Spanien, England und Österreich wohlbekannt. Weniger bekannt ist, daß viele französische Könige und wenigstens vier bedeutende englische Könige homosexuell waren, unter anderem auch König James I., der die Übersetzung der wohl bekanntesten Übersetzung der Bibel in der englischen Sprache, der „King-James-Bibel“, in Auftrag gab.
Heinrich VIII. und andere machten sich durch zahlreiche Ehen und Amouren einen Namen. In der Donaumonarchie waren, der glänzenden Fassade Wiens zum Trotz, Ausschweifung und Inzest in hohen Kreisen an der Tagesordnung, und in der Bevölkerung wimmelte es von unehelichen Kindern.
Durch die prüde, verklemmte Haltung des neunzehnten Jahrhunderts wurde das Laster lediglich in den Untergrund gedrängt. Die Angesehenen der damaligen Gesellschaft schwiegen den Sex in der Öffentlichkeit zwar tot, aber dieselben Herren in Frack und Zylinder waren oft insgeheim unterwegs, so z. B. in London, wo sie eines der über achthundert bekannten Bordelle besuchen konnten oder Erfahrungen in halbgeheimen Sex- und Okkultismus-Zirkeln sammelten, etwa im „Londoner Hellfire Club“. „Inzest war auf diesen Zusammenkünften gang und gäbe. Überflüssig zu sagen, daß viele der männlichen Teilnehmer schon in jungen Jahren impotent wurden und daß manche von ihnen an Geschlechtskrankheiten starben“ (Arthur Lyons, The Second Coming, New York, 1972).
Bei aller zur Schau getragenen Prüderie war jene Gesellschaft keineswegs frei von sexuellen Ausschweifungen dieser Art.
Die letzten fünfzig Jahre
Kriege haben unweigerlich einen verderblichen Einfluß auf die Moral eines Volkes, besonders auf die der Jugend. Nach dem Ersten Weltkrieg kam zum ersten Mal im zwanzigsten Jahrhundert offene Unmoral zum Durchbruch. Sieht man von der weltweiten Zunahme an Geschlechtskrankheiten – einschließlich AIDS – seit etwa 1970 ab, wütete die größte Geschlechtskrankheitenepidemie der Neuzeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs in praktisch allen beteiligten Armeen. Mit der Einrichtung von Bordellen in Frontnähe verschlimmerten die militärischen Befehlshaber die Situation.
Die durch den Krieg geförderte „Jetzt-lustig-leben-und-dann-fröhlich-sterben“-Haltung trug dazu bei, daß Sex ins Theater, ins Kabarett und in die Anfänge des modernen Films einzog. Im Amerika der zwanziger Jahre bot das Alkoholverbot nach außen eine Fassade der Wohlanständigkeit, begünstigte aber in Wirklichkeit nur Alkoholschmuggel, Prostitution und Gangstertum. Der Stummfilm war oft zweideutig, und als Schauspieler agierten „romantische“ Stars wie Rudolph Valentino, bis dann in den dreißiger Jahren genaue Richtlinien dafür festgelegt wurden, was im Film gezeigt werden durfte und was nicht. Im Zweiten Weltkrieg lockerten sich die Normen noch weiter, aber die sexuelle Revolution kam erst richtig in Gang, als die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit in den sechziger Jahren heranwuchsen. Hippies und „freie Liebe“ brachten dann zu Anfang dieses Jahrzehnts die Moral auf einen neuen Tiefpunkt.
Toleranz gegenüber fast jedem möglichen sexuellen Akt, wenn nur die Partner ihn bei gegenseitigem Einverständnis betreiben – das ist im Moment die Norm des modernen Ägypten, Griechenland und Rom, nämlich der heutigen westlichen Welt. Auf der Filmleinwand wird nahezu alles in aufdringlichster Form gezeigt, frei ab achtzehn Jahren. Nur noch wenige Schranken bestehen auf sexuellem Gebiet, aber immerhin gibt es noch einige Schranken. Noch hat keine moderne Gesellschaft die totale Verderbtheit des alten Rom, Athen, Sodom oder Ägypten erreicht.
Was wird diesen Tag aber noch aufhalten? Werden Amerika und Europa hinsichtlich sexueller Perversion bald den Völkern der Antike gleichkommen? Und überhaupt: Wer hat die Autorität zu sagen, daß solche sexuelle Freiheit, wie wir sie heute kennen, falsch ist? Mit Hilfe welcher Maßstäbe ist man in der Lage, eine geschlechtliche Handlung überhaupt als krank, Mißbrauch oder als Vergehen gegen die Natur, gegen Mensch und Gott zu definieren?