In einer Gesellschaft, die sich zunehmend an materialistischen Zielen orientiert, können Christen der Versuchung verfallen, die Dinge zu betonen, die ihnen fehlen.
Von Paul Kieffer
„Was für ein wunderschöner Tag“, rief mein Bekannter aus. „Schauen Sie sich nur diesen blauen Himmel und die schneebedeckten Berge am Horizont an!“ Mein Bekannter hatte im Hotel mit Blick auf die Alpen übernachtet, und die Berge am frühen Morgen begeisterten ihn.
Wie er später erzählte, fühlte er sich plötzlich ziemlich beschämt. Der Mann, mit dem er sich gerade unterhielt, war blind. Er konnte den Anblick der Alpen nicht genießen. Doch die Reaktion des Gesprächspartners überraschte meinen Bekannten:
„Bitte, machen Sie sich keine Sorgen“, meinte er, die Verlegenheit meines Bekannten spürend. „Wenn ich auch nicht sehen kann, so kann ich doch riechen und hören. Ich kann das berühren und fühlen, was Sie manchmal nur mit Ihren Augen erblicken können. Ich bin doch gar nicht so furchtbar behindert, nicht wahr?“
Nein, er war es nicht. Er war in gewissem Sinn nicht behindert. Tatsächlich „sah“ er mehr als viele Menschen, deren Augen normal funktionieren. Was zeichnete ihn aus? Er war ein dankbarer Mensch, dankbar zu leben, dankbar, Freunde zu haben, und schließlich ganz besonders dankbar für seine Berufung zur Wahrheit Gottes.
„Sehen“ Sie die Segnungen in Ihrem Leben? Viele Menschen sehen sie nicht bzw. sind nicht dankbar, und deshalb können sie nicht zufrieden sein.
„Darauf seid bedacht“
Wie sieht es bei unserem Denken aus? Fällt es uns leicht, an all die Dinge zu denken, die für uns als Christen positiv sind, oder haben wir Mühe, an Dinge zu denken, für die wir dankbar sein sollten?
Der Apostel Paulus ermahnt uns: „Weiter, liebe Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht!“ (Philipper 4,8).
Fällt Ihnen auf, dass es in dieser Auflistung von Paulus keinen einzigen traurigen Gedanken gibt? Keine Klagen. Keine Beschwerden. Keine ablehnende Haltung. Was Paulus an die Philipper schreibt, ist eine Aufforderung Gottes an uns. Wie viele von den heute Berufenen beachten es? Mangelnde Dankbarkeit kann uns daran hindern, „darauf bedacht zu sein“.
Haben wir es gelernt, dankbar zu sein? Sind unsere Gebete zu Gott voll von Lob und Danksagung oder belästigen wir ihn ständig mit Forderungen und Klagen? Wir können unser Herz diesbezüglich prüfen, wenn wir das nächste Mal in die Knie gehen, um mit ihm zu sprechen.
Einer der am meisten zitierten Bibelverse – sogar von jenen, die durch das Wort Gottes unbeeindruckt sind – lautet: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Römer 8,28). Diese Verheißung Gottes bezieht sich ganz bestimmt auf jeden wahrhaft Berufenen.
Die Erfahrung der zehn Leprakranken, die Christus um Gnade anflehten, dient uns als Beispiel. Was geschah, nachdem sie geheilt wurden? Nur einer von ihnen, „als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm“ (Lukas 17,15-16). Dieser Mann war nicht einmal ein Israelit, sondern ein Samariter! Unglaublich, nicht wahr?
Ob Nichtjude oder Israelit, wo waren die anderen neun geblieben? Waren sie nicht auch geheilt worden? Und das ist genau die Frage, die Christus stellte, als nur der eine ihm dankte: „Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?“ (Vers 18).
König Davids Beispiel
Was zeichnete König David als einen Mann nach Gottes Herzen aus? War es vielleicht sein Mut? Seine Bereitwilligkeit, seine Sünden zu bereuen? Sein aufrichtiger Wunsch, die Wege Gottes zu erforschen?
Zweifellos trugen auch diese Eigenschaften dazu bei, aber eines der größten Eigenschaften Davids war seine Dankbarkeit gegenüber Gott. Trotz der Sorgen, Versuchungen und Verfolgungen, die er erlebte, pries er Gott ständig. Seine Psalmen sind in vielfacher Hinsicht Dank- und Loblieder.
Psalm 100 ist ein gutes Beispiel für Davids innere Haltung: „Jauchzet dem HERRN, alle Welt! Dienet dem HERRN mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! Erkennet, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, zu seinen Vorhöfen mit Loben; danket ihm, lobet seinen Namen! Denn der HERR ist freundlich, und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für.“
Was für erhebende Worte!
Auch in den Psalmen, in denen David ein Problem vor Gottes Thron bringt – eine Erkrankung, das Gebaren seiner Feinde bzw. der Gottlosen, eine persönliche Verfehlung –, finden wir Worte der Danksagung. Psalm 43 ist ein Beispiel:
„Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten! Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung, dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott“ (Verse 1-4).
Nun fragen wir uns einmal ganz ehrlich: Empfinden wir als Christ auch auf diese Weise? Teilen wir Davids Gedanken? Sind wir Gott für alles dankbar?
Was für Gedanken haben wir die meiste Zeit? Wenn wir am Morgen aufstehen? Bei unseren Gesprächen? Wie ist unsere Haltung am Arbeitsplatz? Welche Gedanken beschäftigen uns, wenn wir alleine sind?
Als gläubige Menschen sollten wir den Geist von Psalm 100 auf unseren Lippen und in unserem Herzen haben!
Christus, ein Mann der Freude
Stellen Sie sich vor, Sie sollten alle Ihre empfangenen Wohltaten, eine nach der anderen, aufzählen. Was würde an der Spitze Ihrer Liste stehen? Ihre Familie? Die Gesundheit, der Sie sich erfreuen? Die Arbeit, die Sie haben? Das Land, in dem Sie leben?
Würden Sie die Liebe Gottes als die größte Wohltat ansehen? Sind Sie dankbar für Ihre Berufung? Einige sind es nicht. Sie wissen es gar nicht zu würdigen, berufen zu sein.
Und wie steht es mit Ihnen?
Das Leben ist für uns alle nicht immer leicht. Wir mögen heute schwierige Probleme haben, quälende Augenblicke, die schwer zu verstehen sind und für die wir ganz ehrlich keine Dankbarkeit empfinden können.
Aber gab es jemals einen Menschen Gottes, der keine Bedrängnisse und Verfolgungen auf sich nehmen musste? Das Leben fordert uns durch Umstände, die zu unserer Entwicklung beitragen. Versuchungen, schwere Prüfungen oder Verfolgungen sind notwendig, damit ein christlicher Charakter entsteht!
Hatte Jesus etwa ein leichtes Leben auf Erden? Leichter als unser Leben? Wir wissen es besser. „Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst. Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde“ (Hebräer 12,3-4).
Doch Jesus war ein Mann der Freude! Er forderte uns auf, seine Freude mit ihm zu teilen. Als Christus einmal einem Mann erklärte, dass, um ein echter Christ zu sein, es bedeuten würde, freiwillig wirklich alles aufzugeben und ihm zu folgen, waren seine Jünger bestürzt. Nach ihrer Meinung waren diese Bedingungen zu hart, als dass irgendjemand erlöst werden könnte.
Aber Christus sprach zu ihnen: „Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker“ – und passen Sie auf, was dann folgt – „mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben“ (Markus 10,29-30).
Uns werden daher nicht nur Segnungen, sondern auch Verfolgungen versprochen. Das ist Teil unserer Berufung, aber auch unserer Freude. Sind wir gewillt, unseren Anteil daran zu übernehmen und sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen? Leider werden einige beim Erleiden von Verfolgungen schwach und vergessen es, dankbar zu sein. Sie vergessen ihre Segnungen und konzentrieren sich stattdessen auf ihre Probleme.
Wie auch immer unsere Umstände sein mögen, so ist doch tatsächlich jeder von uns sehr gesegnet. Was wir auch immer für Probleme haben, so hat doch jeder von uns allen Grund, Gott gegenüber dankbar zu sein. Der Apostel Jakobus schrieb: „Meine lieben Brüder, erachtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen fallt, und wisst, dass euer Glaube, wenn er bewährt ist, Geduld wirkt“ (Jakobus 1,2-3).
Verstehen Sie wirklich diese Worte? Sie sollen es „für lauter Freude“ achten, nicht nur wenn die Dinge gut, sondern auch wenn sie fehlgehen. Jeder kann voller Freude und glücklich sein, wenn das Leben sich von der heiteren Seite zeigt. Aber nur der wahre Christ kann beim Erleiden von Prüfungen Dankbarkeit zeigen.
Der Apostel Paulus war fröhlich
Der Apostel Paulus musste vielleicht mehr erleiden als jeder andere Jünger. Paulus beschrieb seine Erfahrungen im Detail: „Ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer . . .
Ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße“ (2. Korinther 11,23-27).
Doch seine Briefe sind mit Danksagung und Dankbarkeit erfüllt. Er ermahnt uns: „Seid allezeit fröhlich“ (1. Thessalonicher 5,16). Wir können unmöglich fröhlich sein, wenn wir uns ständig beklagen und unsere Sorgen zählen. Und wir können dabei auch nicht den Willen Gottes beherzigen: „Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus in euch“ (Vers 18). Freude und Danksagung werden von Gott gefordert.
Paulus hatte gelernt, wie wir es alle müssen, glücklich zu sein, wie auch immer seine Lage war. Hierin lag Paulus’ Geheimnis. Er wusste, dass Gottes Geist in ihm ihn in all seinen Prüfungen stärken und ihn befähigen würde, seinen Auftrag zu erfüllen.
Wenn Sie eine solche Einstellung besitzen, ganz gleich, was Ihnen geschieht, ob Sie krank oder gesund, arm oder reich sind, dann können Sie jederzeit die Knie beugen und Gott preisen, indem Sie sagen: „Ich danke dir, mein Gott, für deine Gnade. Ich danke dir, mein Gott, für deine Liebe und Barmherzigkeit. Ich danke dir für deine Geduld mit mir.“
Nachdem Sie gelesen haben, was Paulus durchmachen musste, würden Sie da sagen, dass sein Leben leicht gewesen ist? Bestimmt nicht!
Gott sagt uns, dass er es niemals zulassen wird, dass wir über unser Vermögen geprüft werden. „Bisher hat euch nur menschliche Versuchung getroffen. Aber Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt“ (1. Korinther 10,13).
Dankbarkeit auszudrücken ist ein Zeichen des geistlichen Wachstums. Sind wir nicht mehr dankbar, schalten wir uns auf die Wellenlänge des Teufels und werden so für seine Attacken anfällig. Satan hat es gerne, wenn wir uns beklagen, denn dies ist ein Zeichen, dass wir uns von Gott abwenden.
Nehmen Sie sich Dankbarkeit vor!
Hier ist eine Herausforderung an Sie: Entschließen Sie sich, zwölf Stunden lang sich nicht zu beklagen. Lassen Sie es nicht zu, dass, was auch immer geschieht, irgendwelches Meckern oder Murren in Ihre Worte oder Gedanken eindringen kann. Sagen Sie sich: „Alle Dinge dienen zu meinem Besten.“
Sie werden über das Ergebnis und die plötzliche fantastische Veränderung in Ihrem Leben überrascht sein!
Es wird Ihnen, aller Wahrscheinlichkeit nach, schwerfallen, sich dieser Herausforderung zu stellen, denn das Klagen ist möglicherweise Teil Ihres täglichen Lebens, eine Routinesache, ob bewusst oder unbewusst.
Aber versuchen Sie es! Richten Sie Ihren Sinn, Ihre Augen, Ihre Gedanken auf das Ziel – auf den Zweck Ihres Daseins, auf die Gelegenheiten zum Helfen und Dienen im Reich Gottes. Schenken Sie jenen Gedanken keine Aufmerksamkeit mehr, die ein Hemmnis für Ihren Entschluss sein können. Wie der Blinde zu Beginn dieses Artikels, fühlen Sie, was Sie nicht sehen können, und seien Sie fröhlich und dankbar für das, was Sie haben!
Wenn Sie nicht beim ersten Male Erfolg haben, versuchen Sie es so lange, bis Sie Erfolg haben, und dann lassen Sie es zur Gewohnheit werden. Gott selbst wird Ihnen jede Hilfe geben, die Sie benötigen. Das Versprechen, das er den alten Israeliten gab, gilt auch für Sie: „Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der HERR heute an euch tun wird . . . Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein“ (2. Mose 14,13-14).
Was brauchen wir noch für eine Ermutigung? Gott wird für uns streiten, wenn wir aufhören, uns zu beklagen, und stattdessen dankbar sind.
Erst dann werden wir die volle Bedeutung von Paulus’ Worten begreifen: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Römer 8,18).
Freude – selbst bei Prüfungen im Leben
Freude kommt nicht durch das, was uns passiert, sondern wie wir darauf reagieren – welche Einstellung wir zu diesen Erfahrungen haben. Wir brauchen uns nicht wie hilflose Opfer der Umstände zu fühlen.
In welcher misslichen Lage wir uns auch befinden mögen, wir sollten uns fragen: Wie möchte der Schöpfer des Universums, der das Herz des Menschen kennt, dass ich die Situation beurteile und mich ihr stelle? Dann entscheiden wir uns – mit seiner Hilfe – dafür, die richtige Einstellung zu haben.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Leben des Apostels Paulus. Wenn jemand je Grund für Selbstmitleid und den Gedanken „Wehe mir!“ gehabt hätte, dann wäre es Paulus (2. Korinther 11,23-28). Bevor Gott ihn berief, war Paulus hartherzig und zornig. Er verfolgte und ermordete Christen.
Nach seiner Bekehrung verwandelte er sich in eine liebevolle und freudige Person – teilweise deshalb, weil er die unglaubliche Großzügigkeit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes begriff. Ironischerweise gehören die „Gefängnis-Episteln“ zu den freudigsten Büchern der Bibel – Briefe, die Paulus während seiner Gefangenschaft in Rom geschrieben hat (Apostelgeschichte 28,16-31). Er schrieb Briefe an die Epheser, Philipper, Kolosser und an Philemon. Ein Mann, der eigentlich selbst Ermutigung brauchte, gab anderen Ermutigung!
Paulus beschrieb sein außerordentliches Leiden als „leicht“, verglichen mit „der unendlichen, unvorstellbaren Herrlichkeit“, die Christen bei der Auferstehung erwartet (2. Korinther 4,17; siehe auch Römer 8,18; „Hoffnung für alle“-Übersetzung). Was für eine großartige Einstellung!
Paulus schrieb: „Ich habe nämlich gelernt, mit der Lage zufrieden zu sein, in der ich mich befinde“ (Philipper 4,11; Schlachter-Bibel). Zufriedenheit ist ein großer Bestandteil von Freude. Er wies uns an, Freude nicht nur dann zu empfinden, wenn alles gut läuft. Er sagte: „Seid allezeit fröhlich“ (1. Thessalonicher 5,16).
Kinder lernen Dankbarkeit durch das Familiengebet
Manche Eltern erziehen ihre Kinder „religionslos“ und meinen, dass ihre Kinder später selbst in der Lage sein werden, im „Kaufhaus der Religionen“ ihr eigenes Glaubensverständnis zu finden.
Wie stehen die Chancen für Eltern, ihre Kinder möglichst „manipulationsfrei“ zu erziehen, damit sie später ohne eventuelle Erziehungsschäden eine Beziehung zu Gott entwickeln können? Der Tübinger Theologieprofessor Albert Biesinger schreibt dazu: „Den Spruch, mein Kind soll später selbst entscheiden können, welche Religion es wählen will, halte ich für entwicklungspsychologisch völlig verfehlt. Ich rede ja auch nicht zehn Jahre mit meiner Tochter nicht deutsch, nur weil vielleicht mein Kind später sagen könnte: ich wollte ja gar nicht Deutsch lernen. Ich wollte Türkisch lernen. Ihr habt alles falsch gemacht“ (Albert Biesinger, Kinder nicht um Gott betrügen, Seite 61).
Biesinger fügt hinzu: „Auch die Entscheidung, Kinder von religiösen Lebensdeutungen fernzuhalten, wäre eine manipulative Entscheidung. Niemand, der sich verantwortlich mit Erziehung beschäftigt, kann die Auseinandersetzung mit frühkindlichen religiösen Fragen aussparen; wer dies dennoch tut, trifft damit auch eine Entscheidung, nämlich die, Kindern eine wesentliche Möglichkeit, ihr Leben religiös zu deuten, vorzuenthalten . . . Wenn ein Kind für Religiöses erst gar keine Antennen entwickeln kann, dass es vielleicht Gott geben könnte, dann ist es nachher ungleich schwieriger, sich für einen religiösen Weg zu entscheiden“ (ebenda, Seite 60-61).
Um Kindern die Möglichkeit zu geben, sich später für oder gegen Gott zu entscheiden, muss man ihnen schon im Kindesalter die Gelegenheit geben, eine „Antenne“ für Gott zu entwickeln. Kinder lernen vom alltäglichen Beispiel ihrer Eltern. Von ihrem Vorbild lernen sie, ob Gott wichtig oder unwichtig ist.
„Kinder nehmen an alltäglichen Prozessen Anteil. In Zeiten, in denen Familien vor dem Essen selbstverständlich kurz innehielten, um an den Geber aller Gaben zu denken und gemeinsam ein Gebet zu sprechen, musste man nicht lange theoretisch diskutieren, ob es Gott gibt oder nicht, ob er da ist oder nicht“ (ebenda, Seite 32). Welche wichtigen Werte und Erfahrungen können Eltern ihren Kindern durch das gemeinsame Gebet innerhalb der Familie vermitteln, die es lohnenswert machen, an einer aussterbenden Tradition festzuhalten?
Wenn Kinder lernen, ein Dankgebet am Tisch zu sprechen oder abends mit den Eltern Gott für alles Positive des vergangenen Tages zu danken, wie z. B. das Essen, die Geschwister, die Schulfreunde usw., dann lernen sie, dass es einen Schöpfergott gibt, dem sie ihre Existenz verdanken und auf den sie vertrauen können.
Sie lernen, vieles nicht einfach für selbstverständlich anzusehen und können so die Falle des ständigen Forderns meiden, die in einer materialistischen Gesellschaft leider allzuoft festzustellen ist. Biesinger stellt zum Thema Dankbarkeit fest: „Wir Menschen vergessen immer wieder zu danken; dies hängt damit zusammen, dass wir nicht darunter leiden“ (ebenda, Seite 104).
Eltern, die mit ihren Kindern ein kurzes Gebet vor dem Schlafengehen sprechen und sie nicht einfach so ins Bett bringen, um sich dann schnell ihrer abendlichen Beschäftigung zu widmen, vermitteln ihren Kindern das Gefühl, geliebt und behütet zu sein. Sie geben dem Alltagsgeschehen einen kleinen Höhepunkt.
Biesinger erklärt dazu: „Für viele Kinder ist damit auch der abendliche Abschied von den Eltern leichter. Sie merken: ,Ich bin wichtig, und meine Eltern haben nicht nur Zeit zum Fernsehen, sondern auch für mich.‘ Kinder erleben die äußere und innere Zuwendung als hilfreich und aufbauend“ (ebenda, Seite 111).
Wenn Kinder lernen, Gott ihre eigenen Gedanken und Sorgen im Gebet mitzuteilen, führt dies nicht nur zu einer Beziehung zwischen dem Kind und dem Schöpfergott, sondern auch zu einer engeren Beziehung zwischen Eltern und Kind, weil die Eltern so noch einmal am Ende des Tages hören können, wie das Kind den Tag erlebt hat. Oft kommen dabei erstaunliche Ansichten zutage, die das Kind in der Hektik des Alltags vielleicht nie geäußert hätte.