Jesu Tod machte es möglich, dass Heidenchristen, die sonst ohne Hoffnung waren, zu Miterben der Verheißungen werden, die Gott Abraham gegeben hatte.
Von Roger Foster
Der Brief des Apostels Paulus an die Epheser handelt von Gottes herrlichem Plan, allen Menschen Frieden, Einheit und das Heil zu bringen – sowohl den Juden als auch den Heiden. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Gott „uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist“ (Epheser 1,9-10; alle Hervorhebungen durch uns).
Seine Botschaft an die Christen in Kolossä erfolgt in ähnlicher Sprache: „Denn es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“ (Kolosser 1,19-20).
Paulus appelliert daher an die Christen, sie sollten bereit sein „einzutreten für das Evangelium des Friedens“ (Epheser 6,15). Um dieses Ziel zu erreichen, müssen sowohl das eigene Denken als auch die eigene Lebensweise fest in den Lehren von Gottes Wort verankert sein.
Paulus hat auch offene Worte für die nicht jüdischen Christen, deren früheres Verhalten nicht auf dem Wort Gottes gegründet war: „So sage ich nun und bezeuge in dem Herrn, dass ihr nicht mehr leben dürft, wie die Heiden leben in der Nichtigkeit ihres Sinnes“ (Epheser 4,17). Sie müssen damit aufhören, „nach der Art dieser Welt“ zu leben, die von „den listigen Anschlägen des Teufels“ kontrolliert wird (Epheser 2,2; 6,11).
Stattdessen müssen sie erkennen, dass sie „ein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken“ sind (Epheser 2,10). Paulus’ Worte stehen in Einklang mit seinen Aussagen in anderen Briefen. Nur durch ein Studium der Bibel als das „Wort der Wahrheit“ (2. Timotheus 2,15) zum Erhalt rechter „Erziehung in der Gerechtigkeit“ wird es möglich, dass „der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt“ (2. Timotheus 3,16-17).
Heiden und Juden durch ein gemeinsames Erbe vereint
Wie auch in seinen anderen Briefen betont Paulus erneut, dass die Heiden, damit sie die Verheißungen Gottes ererben können, zuerst in die Wurzel Israels, den natürlichen Ölbaum, der von Abraham abstammt, eingepfropft werden müssen.
Paulus betont mit allem Nachdruck: „Darum denkt daran, dass ihr, die ihr von Geburt einst Heiden wart und Unbeschnittene genannt wurdet von denen, die äußerlich beschnitten sind, dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der Verheißung; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt. Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi“ (Epheser 2,11-13).
Zu was sind sie „Nahe geworden“? Zu der Verheißung des gleichen Erbes, das die christlichen Juden für sich beanspruchen! „Denn er [Christus] ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile [Juden und Heiden] und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder“ (Vers 14; Einheitsübersetzung).
Welche „trennende Wand“ ist „niedergerissen“ worden, sodass Juden und Heiden in „einem einzigen“ Leib, der Kirche versöhnt werden konnten? In Vers 14 beschreibt Paulus diese Wand als die „Feindschaft“, die die Juden und Heiden voneinander getrennt hat. Was auch immer diese „Wand“ war, sie stellte ein klares Symbol für die Feindschaft zwischen Juden und Heiden dar. Leider wird diese „Wand“ der Feindschaft oft als Gottes Gebote – als sein Gesetz – missdeutet.
War es das, was Paulus im Sinn hatte, als er diese Analogie der Wand, die Juden und Heiden trennen würde, anführte? Nicht auch nur im Entferntesten! Wir wollen hier die „Wand“, die die Barriere zwischen Juden und Heiden so eindringlich symbolisiert, identifizieren. Um dies tun zu können, müssen wir ein wenig von der Geschichte und der Bedeutung der beiden griechischen Schlüsselworte, die Paulus hier verwendet, korrekt verstehen.
Die „mittlere Wand“ des Tempels
Im Neuen Testament kommt das griechische Wort mesotoichon, was „mittlere Wand“ bedeutet, nur in Epheser 2, Vers 14 vor. Das griechische Wort phragmos, das im gleichen Vers verwendet wird und als „trennend“ (Einheitsübersetzung) oder „dazwischen sein“ (Luther) übersetzt wird, bedeutet „Zaun“ oder „Geländer“ (siehe Matthäus 21,33; Markus 12,1; Lukas 14,23).
Die Bedeutung dieser Wörter deutet an, dass Paulus’ Ausdruck „trennende Wand“ sich auf eine Barriere bezog, die die Menschen wie ein Zaun voneinander trennte. An dieser Stelle kann uns ein Blick in die Geschichte das Verständnis erleichtern.
Flavius Josephus stammte aus einer priesterlichen Familie und war ein jüdischer Historiker des ersten Jahrhunderts. In seinem Werk Geschichte des jüdischen Krieges verwendete er beide griechische Begriffe – in unterschiedlichem Kontext – für ein bestimmtes Geländer bzw. eine bestimmte Barriere (Fünftes Buch, Kapitel 5, Paragraph 2 und 6).
Welche Barriere bewegte Paulus zu seinem Vergleich mit der Trennung, die zwischen den Heiden und den Juden existiert? Es war die Mauer, die die Juden errichtet hatten, um den Vorhof der Heiden – den Bereich des jüdischen Tempelkomplexes, zu dem Heiden der Zutritt gestattet war – vom inneren Tempelbereich des Tempels abzutrennen, zu dem Heiden der Zutritt verboten war.
Der New International Commentary of the New Testament: The Book of Acts erläutert dies wie folgt: „Damit kein Heide den verbotenen Bereich aus Versehen betreten würde, wurden Hinweistafeln in Griechisch und Lateinisch an der Barriere am Fuß der Stufen, die in den inneren Bereich führten, angebracht, die sie [die Heiden] warnten, dass ihnen der Zutritt bei Todesstrafe verboten war.
Zwei dieser Hinweistafeln [beide in Griechisch] wurden gefunden – eine 1871 und eine 1935 – und enthielten folgenden Text: Kein Fremder [Heide] darf diese Abtrennung auf dem Platz des Tempelbereichs überschreiten. Wer dabei gefasst wird, hat sich seinen darauf folgenden Tod selbst zuzuschreiben“ (1974, Seite 434).
Von Menschen errichtete Barrieren
Die Errichtung dieser physischen Mauer im Vorhof des Tempels war nicht in der Bibel befohlen worden. Gott hat so etwas an keiner Stelle angeordnet. Für Paulus stellte diese von den Juden errichtete Barriere ein passendes Symbol für die Feindschaft dar, die die Juden und Heiden füreinander empfanden.
Die buchstäbliche, physische „mittlere Wand“ wurde bei der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. abgerissen. Einige Jahre vor ihrer physischen Zerstörung wies Paulus aber auf sie als zutreffendes Symbol für die von Vorurteilen geprägten ethnischen und religiösen Barrieren hin, die die Menschen voneinander trennen.
Alle solchen von Menschen errichteten Barrieren müssen „niedergerissen“ werden, bevor die Menschheit den Frieden und die Einheit erleben kann, für die Christus gestorben ist. Aber bis auf den heutigen Tag ist die Welt voller menschengemachter Tabus, die die Menschen kulturell, religiös, ethnisch und auf nationaler Ebene voneinander trennen.
Paulus weist darauf hin, dass Gottes Plan für wahre Versöhnung die Entfernung der Barrieren erfordert, die die Menschen entgegen den Zielen der Bibel voneinander trennt. Wie er es ja auch den Galatern erklärt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3,28).
Hat Paulus den Bekehrten aus den Heiden in Ephesus geraten, die Juden abzulehnen? Nein, die Zielrichtung seiner Bemerkungen wollte das Gegenteil bewirken.
Er merkte an, dass die Hoffnung und die geistliche Zukunft der Heidenchristen darin liegen, an den Verheißungen teilzuhaben, die mit dem „Bürgerrecht“ von Abrahams „Samen“ verbunden sind – nicht darin, die Juden abzulehnen. Und genau so wenig sollten die Juden die Heiden ablehnen. Die seit Langem bestehenden Barrieren zwischen den Juden und den Heiden mussten niedergerissen werden. (Lesen Sie dazu auch „Paulus im Gefängnis aufgrund eines menschengemachten Tabus“ auf Seite 6.)
Wenn wir erst einmal verstehen, dass menschengemachte ethnische, religiöse, geschlechtsspezifische und kulturelle Vorurteile das sind, was dem Weg des Friedens und der Einheit, den Paulus anspricht, entgegenstehen, dann wird auch der Sinn seiner restlichen Bemerkungen deutlich. Das Hauptaugenmerk der Botschaft von Paulus im Epheserbrief liegt darauf, „dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind“ (Epheser 3,6).
Die größten Veränderungen bei der eigenen Lebensweise waren dabei nicht bei den Judenchristen, sondern bei den Heidenchristen erforderlich. Deshalb sagt Paulus den Heidenchristen, dass sie nicht mehr leben durften, „wie die Heiden leben in der Nichtigkeit ihres Sinnes. Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist“ (Epheser 4,17-18).
Unkenntnis entfremdet Menschen „dem Leben, das aus Gott ist“, wie es von seinen Dienern, den Aposteln und Propheten offenbart wurde, die die Bibel niedergeschrieben haben (Epheser 2,19-20). Wenn falsche Glaubensvorstellungen als „Wahrheit“ ausgegeben werden, werden sie zu mächtigen Mitteln der Verführung.
Traditionen, die die Menschheit verblenden
In Epheser und Kolosser finden wir mehrere thematisch eng verbundene Botschaften, die menschliche Traditionen ansprechen und vor deren Verführungskraft warnen. An einer Stelle fasst Paulus diese irreführenden menschlichen Traditionen mit dem Ausdruck „das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen“ zusammen (Epheser 2,15).
Paulus gab zum Beispiel folgende Warnung an die Kolosser: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus“ (Kolosser 2,8). Die Vorstellungen, gegen die Paulus in Kollosä ankämpfte, waren keine biblischen Ideen, sondern weltliche philosophische Ideen, die ihre Wurzel in menschlichen Traditionen hatten.
Auch in Ephesus musste Paulus menschliche Traditionen – nicht Gottes Gesetz – bekämpfen. Wir können uns das dadurch bestätigen, dass wir sowohl die Bedeutung als auch die übliche Verwendung von bestimmten griechischen Schlüsselwörtern, die Paulus in Epheser 2 benutzte, untersuchen und diese mit ähnlichen oder identischen griechischen Wörtern in Kolosser 2 vergleichen.
In der Bibel bezieht sich der Begriff „Gebote“ im Allgemeinen auf die Gebote Gottes. Aber das ist nicht immer der Fall. Zum Beispiel kann ein „Gebot“ von menschlichen Herrschern, Militärmachthabern oder von jedem ausgehen, der für sich in Anspruch nimmt, Autorität auszuüben – unabhängig davon, ob der jeweilige Autoritätsanspruch berechtigt ist.
Das ist eine wichtige Tatsache. In Titus 1, Vers 14 benutzt Paulus das griechische Wort entole für „Gebote“, die er offensichtlich als „menschengemacht“ bezeichnet. Er benutzt das gleiche Wort für „Gebote“, als er von dem „Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen“ in Epheser 2, Vers 15 schreibt. Das griechische Wort entole steht in direktem Zusammenhang mit dem griechischen Wort entalma, das ebenfalls als „Gebote“ übersetzt wird – und sich in Kolosser 2, Vers 22 auf die „Gebote und Lehren von Menschen“ bezieht.
Es geht hier darum, dass Paulus’ Verwendung von entole (Epheser 2,15) und entalma nicht auf Gottes Gebote beschränkt ist. Die Behauptung, dass diese Begriffe im Epheser- und Kolosserbrief immer als auf Gottes Gesetz bezogen verstanden werden müssen, ist nicht haltbar. Beide Wörter können und werden auch oft auf andere Weise benutzt.
Und im Epheser- und Kolosserbrief benutzt Paulus beide Begriffe in Bezug auf Gebote von Menschen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns einige zusätzliche Wörter ansehen, die Paulus verwendet hat.
„Satzungen“ und „Forderungen“
Das griechische Wort, das in der Lutherbibel in Epheser 2, Vers 15 als „Satzungen“ und in Kolosser 2, Vers 14 als „Forderungen“ übersetzt wird, ist dogma. Es wird in anderen deutschen Übersetzungen auch als „Vorschriften“ oder „Verordnungen“ übersetzt. Wie auch die oben beschriebenen Wörter ist seine Bedeutung nicht auf das biblische Gesetz und die biblischen Satzungen beschränkt.
Von seiner Sprachbedeutung her bedeutet das griechische Wort dogma „eine formelle Regel (oder eine Reihe von Regeln), die vorschreibt, was die Menschen zu tun haben“ (Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains, 1988). Dogma wird gewöhnlich als „Satzung“ übersetzt und bezieht sich auf Satzungen, die entweder von Menschen oder von Gott festgelegt wurden. Der Begriff ist auf jeden Fall nicht auf biblische Satzungen und Gesetze beschränkt. Paulus verwendet ihn sowohl in Epheser 2, Vers 15 als auch Kolosser 2, Vers 14 im Zusammenhang mit von Menschen aufgestellten Forderungen und Regelungen.
Dogma war im Griechischen so gebräuchlich, dass das Wort sogar in die deutsche Sprache aufgenommen wurde. „Dogma“ wird dabei als „nicht hinterfragbar dargestellte Überzeugung oder Lehrmeinung . . . grundlegender Glaubenssatz, kirchlicher Lehrsatz“ definiert (Langenscheidt Fremdwörterbuch). Wir verwenden das deutsche Adjektiv „dogmatisch“ um eine starre, unnachgiebige Aussage oder Meinung zu beschreiben. Das trifft auch die Art und Weise, wie Paulus das griechische Wort dogma im Epheser- und Kolosserbrief benutzt hat, ziemlich genau.
Eine Variation von dogma ist das griechische Verb dogmatizo, was „einer Verpflichtung durch Regeln oder Satzungen unterstellen, verpflichten“ oder in der passiven Form, wie in Kolosser 2, Vers 20, „sich Regeln und Bestimmungen unterwerfen“ bedeutet (Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature, 2000, Seite 254).
Paulus’ Anwendung dieser Worte ist klar erkennbar. Er benutzt Wörter wie „Satzungen“ oder „Forderungen“ (dogma in Epheser 2,15 und Kolosser 2,14; dogmatizo in Kolosser 2,20) für von Menschen auferlegte Bestimmungen und Regeln – die „Gebote und Lehren von Menschen“. Der Kontext seiner Bemerkungen macht deutlich, dass das die von ihm beabsichtigte Bedeutung war. In beiden Briefen (Epheser und Kolosser) spricht Paulus von dogmatischen, menschengemachten Verordnungen, die die Menschen voneinander trennen.
Es geht nie um Gottes Gesetz, wenn Paulus von menschengemachten Einschränkungen spricht. Weder die von ihm in diesem Kontext verwendeten Wörter noch seine Grammatik erlauben die Schlussfolgerung, dass es hier um Gottes Gesetz geht. Und doch ist das die häufigste Schlussfolgerung, die aus diesen Stellen – unberechtigterweise – gezogen wird.
Diejenigen, die versuchen hier das Gesetz Gottes zum Mittelpunkt von Paulus’ Anmerkungen zu machen, unterlegen seinen Aussagen lediglich ihre eigenen Vorurteile. Sie sind in ihrem theologischen Denken von jahrhundertealten Traditionen geprägt. Dieses antigesetzliche, antijüdische Denken wird aber mittlerweile von einigen der sachkundigsten Gelehrten abgelehnt.
Schon vor langer Zeit hat Paulus den wahren Grund für ein solches Denken aufgezeigt, als er schrieb: „Die Gesinnung des Fleisches [ist] Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie kann das auch nicht“ (Römer 8,7-8; Elberfelder Bibel). So lange wie die Feindseligkeit gegenüber Gottes Gesetz das menschliche Denken beherrscht, wird die Menschheit nie Frieden erreichen. Gottes Lösung besteht darin, dass er seine Gesetze in unsere Herzen und unseren Verstand schreibt.
Damit dies geschehen kann, müssen wir zuerst die menschlichen Traditionen, die Gottes Gesetzen entgegenstehen, aus unserem Denken entfernen – Traditionen, die Feindseligkeit und Spaltungen, statt Frieden, Liebe und Einheit fördern. Die wahre christliche Lehre ist: „Das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer“ (1. Johannes 5,3).
Wie verwendet Paulus „Gesetz“ in Epheser 2, Vers 15?
Lassen Sie uns jetzt die Bedeutung des griechischen Wortes ansehen, das als „Gesetz“ übersetzt wird und von Paulus in dem Ausdruck „das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen“ (Epheser 2,15) verwendet wurde. Das griechische Wort ist nomos, ein Wort, das eine breite Palette an Bedeutungen haben kann.
Im Neuen Testament wird nomos im Allgemeinen für das biblische Gesetz gebraucht, vor allem für die Thora (die fünf Bücher Mose), entweder in ihrer Gesamtheit oder für Teile davon. Aber, wie das Wort Gebote auch, ist seine Bedeutung nicht auf das biblische Gesetz beschränkt.
Zusätzlich zum göttlichen Gesetz kann das Wort auch Folgendes bedeuten: „ein Vorgang oder Brauch, der sich eingebürgert hat, eine Sitte, eine Regel, ein Prinzip, eine Norm“ (Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature, Seite 677). Nomos ist so weit gefächert in seiner Bedeutung, dass es sich auch auf Bräuche, Prinzipien oder Gesetze beziehen kann, die sich deutlich von dem Gesetz Gottes unterscheiden.
Der Ausdruck „das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen“ sollte eher als „die Verfügung von Erlassen, die in Vorschriften enthalten sind“, die von Menschen gemacht wurden, übersetzt werden. Das würde die von Paulus beabsichtigte Bedeutung besser treffen.
In Epheser 2, Vers 15 bringt Paulus lediglich zum Ausdruck, dass Jesus Christus durch „das Opfer seines Leibes“ (seinen Tod für unsere Sünden) menschliche Vorschriften, die von Menschen als Kriterien zur Beurteilung anderer entwickelt worden sind, ungültig gemacht hat. Seine Betonung liegt darauf, dass Christi Beispiel der korrekte Maßstab für alle Beziehungen ist.
Paulus fasst diese Punkte mit folgenden Worten zusammen: „. . . damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe“ (Epheser 4,14-16).
Indem er die Sündenvergebung allen Völkern zugänglich gemacht hat, hat Christus jede Ausrede für die Aufrechterhaltung von Feindseligkeit anderen gegenüber abgeschafft. Das ist die wahre Botschaft von Epheser 2, die von Paulus’ Worten in Kolosser 2 bestätigt wird. Keines dieser Kapitel befasst sich mit der Abschaffung von Gottes Gesetz. Indem Juden und Heiden Christi Tod zur Tilgung ihrer persönlichen Sünden akzeptieren, werden sie vor Gott auf die gleiche Stufe gestellt.
Die Verfälschung des apostolischen Christentums
Fast unmittelbar nachdem die römischen Armeen die Stadt Jerusalem und deren Tempel im Jahre 70 n. Chr. zerstört hatten, begannen sich starke Vorurteile gegen jüdische Glaubensvorstellungen und Bräuche wie ein Lauffeuer im ganzen Römischen Reich zu verbreiten. Später führten diese Vorurteile nach dem Tod von Paulus und Johannes zum ersten großen „Abfall“ von den Lehren des Neuen Bundes, wie sie von Christi Aposteln erläutert worden waren (2. Thessalonicher 2,3).
Vor diesem negativen Ereignis sind die vorwiegend aus früheren Heiden bestehenden Gemeinden, die Paulus gegründet hat, „den Gemeinden Gottes in Judäa nachgefolgt“ (1. Thessalonicher 2,14). Sie folgten der gleichen geistlichen Lebensweise, die die jüdischen Christen praktizierten.
Nach dem Fall von Jerusalem wurde es jedoch zunehmend schwierig, diese Lebensweise beizubehalten. Es erforderte eine höhere Ebene an Glauben und Mut, die viele Bekehrten nicht hatten. Als Folge begannen sich weltliche Vorurteile im Heidenchristentum gegen alles Jüdische zu verbreiten.
Falsche Sichtweisen von den Schriften des Paulus, von Lehrern stammend, die zu den „Unwissenden und Leichtfertigen“ zählten, begannen die Lebensweise und Anbetungsmuster, die die Heidenchristen von ihren jüdischen Geschwistern übernommen hatten, zu unterminieren (2. Petrus 3,16). Vom letzten Teil des ersten Jahrhunderts bis durch das vierte Jahrhundert hindurch hat der Teil der christlichen Religion, der bei Historikern Beachtung findet, dramatische Veränderungen akzeptiert.
Ein neues Konzept einer „fortschreitenden Offenbarung“ ermöglichte es Kirchenführern, die Lehre so zu revidieren, dass sie ihren eigenen Vorstellungen von den Bedürfnissen der Kirche entsprach – statt sich strikt an die Lehren zu halten, die von den Aposteln stammten. Die gesamte von den Aposteln gelehrte Lebensweise wurde stetig weiter aufgegeben, bis das, was die meisten für die christliche Religion halten, kaum noch etwas mit den ursprünglichen Lehren der Apostel gemein hatte.
Jesus wusste, dass diese verfälschte, das Gesetz ablehnende Form des Christentums aufkommen würde. Er warnte: „Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!“ (Matthäus 7,22-23; Einheitsübersetzung).
Diejenigen, die den Lehren der Apostel treu geblieben sind, verwenden die biblischen Schriften beständig als die Grundlage für ihre eigene Lebensweise. Aus diesem Grund ist die Kirche, die Jesus gegründet hat, eine „kleine Herde“, wie er seine Nachfolger bezeichnete (Lukas 12,32), geblieben.
Paulus wegen eines von Menschen gemachten Tabus in Gefangenschaft
Sowohl bibelinterne als auch historische Belege deuten an, dass sich Paulus, während er seine Briefe an die Epheser und Galater schrieb, im Gefängnis befand. Der Grund für seine Gefangenschaft erklärt wahrscheinlich, warum er den Ausdruck „die trennende Wand der Feindschaft“ in Epheser 2, Vers 14 (Einheitsübersetzung) verwendete, um menschengemachte und diskriminierende Vorschriften zu charakterisieren, die Menschen voneinander entfremden und trennen.
Paulus’ Gefangenschaft war die Folge der falschen Anschuldigung, dass er einen Heiden jenseits einer verbotenen Grenze im Tempelkomplex mit sich geführt hätte (Apostelgeschichte 21,29). In einem Artikel mit dem Titel „The Wall Is Gone“ (zu deutsch in etwa „Die Mauer ist weg“) bietet Craig McMahon diese einsichtsvolle Beobachtung zu der Frage, warum diese „trennende Wand“ wahrscheinlich ein so wesentlicher Faktor im Denken von Paulus war:
„Die aussichtsreichste [Erklärung] . . . identifiziert diese ,trennende Wand’ mit der Tempelmauer, die den Vorhof der Heiden von den unterschiedlichen Innenhöfen der Juden abtrennte. Rhetorisch gesprochen dient diese Tempelmauer als ergreifende Metapher der sozialen und geistlichen Zurückweisung der Heiden durch die Juden. Keinem Heiden war es gestattet, den Bereich im jüdischen Teil des Tempels jenseits der fünf Fuß [etwa 1,50 Meter] hohen Steinmauer zu betreten . . .
Historisch gesehen spielte diese Tempelmauer eine zentrale Rolle im Verlauf von Paulus’ Missionsarbeit. Apostelgeschichte 21, Verse 26-36 erzählt die Geschichte, wie Paulus im ausschließlich den Juden vorbehaltenen Bereich des Tempels mit einigen Fremden gesehen worden war. Es wurde vermutet wurde, dass einer von ihnen, Trophimus von Ephesus, ein Heide sei.
Jüdische Tempelbesucher ergriffen Paulus und beschuldigten ihn, dass ,er auch Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte entweiht [hat]‘ (Vers 28). Mit dieser Anschuldigung wurde Paulus vorgeworfen, dass er sich der Beihilfe für Heiden, die Trennmauer zu durchbrechen, schuldig gemacht hätte . . .
Wenn Paulus seinen Epheserbrief wirklich während dieser längeren Zeit der Gefangenschaft geschrieben hat, dann könnte diese Bestätigung in Epheser 3, Vers 1 (,Ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch Heiden‘) eine historische Erinnerung an seine Verhaftung für die angebliche Verletzung der Begrenzungen der Tempelmauer sein . . .
Paulus’ Erwähnung der trennenden Wand . . . passt zu dem wahrscheinlichen historischen Kontext des Epheserbriefes und ist gut für den rhetorischen Zweck dieses Abschnitts geeignet – es geht nämlich um die frühere Trennung zwischen Juden und Heiden und die neue Ordnung, die in Christus geschaffen wurde“ (Review and Expositor, Frühjahr 1996, Seite 262).