Gibt es gerettete Menschen im Himmel? Das meinen jedenfalls viele Christen. Als Beweis für die Richtigkeit ihrer Sichtweise nennen sie den Schächer am Kreuz.
Von Noel Horner
Als Jesus sterbend am Kreuz hing, verteidigte ihn einer der beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wurden. Wir finden die Geschichte bei Lukas:
„Einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan“ (Lukas 23,39-41; alle Hervorhebungen durch uns).
Dieser Verbrecher richtete dann eine Bitte an Jesus: „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst“ (Vers 32). Jesu Antwort hat seit Jahrhunderten für Verwirrung gesorgt: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lukas 23,43). Viele Christen sind nun der Ansicht, Jesus habe dem Mann versichert, er würde am gleichen Tag mit ihm in den Himmel fahren. Ist das die Bedeutung der Worte Jesu? Was meinte Jesus wirklich?
Zunächst gilt es zu klären, wo das Paradies ist, von dem Christus sprach. Das griechische Wort, das in diesem Vers mit „Paradies“ übersetzt wurde, kommt sonst nur zweimal im Neuen Testament vor. In beiden Fällen bezieht es sich auf die Gegenwart Gottes. In 2. Korinther 12, Verse 2-4 beschreibt Paulus eine Vision, in der er „in das Paradies“ entrückt wurde (Vers 4). Paulus setzt dieses Paradies dem „dritten Himmel“ gleich (Vers 2), also mit der Wohnstätte Gottes.
Jesus Christus erwähnte einen „Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist“ (Offenbarung 2,7). In Offenbarung 22, Vers 2 erfahren wir, dass dieser Baum des Lebens im neuen Jerusalem sein wird.
Gott kommt aus dem Himmel zur Erde herab, um in diesem neuen Jerusalem zu wohnen (Offenbarung 21,1-3), nachdem die in Offenbarung 20 beschriebenen Auferstehungen stattgefunden haben. Erst dann werden die Menschen mit Gott in diesem Paradies zusammenwohnen dürfen.
Diese Bibelstellen zeigen uns, dass das Paradies, das Jesus am Kreuz erwähnte und in dem der Mensch mit Gott sein wird, erst in der Zukunft existieren wird. Wie können wir mit Sicherheit wissen, dass dies die Bedeutung der Worte Jesu ist?
Zum einen sagt uns die Bibel deutlich, dass Jesus am Tag seines Todes nicht ins Paradies gefahren ist. Stattdessen wurde er ins Grab gelegt: „Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift“ (1. Korinther 15,3-4).
Kurz nach seiner Auferstehung von den Toten sagte Jesus zu Maria: „Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“ (Johannes 20,17). Drei Tage und Nächte nach seinem Tode sagte Jesus selbst, dass er noch nicht in den Himmel gefahren war!
Jesus lag drei Tage und Nächte im Grab (Matthäus 12,40). Jesus wurde begraben; am Tag seines Todes kann Jesus unmöglich mit dem gekreuzigten Verbrecher im Paradies gewesen sein. Nirgends sagt die Bibel, dass der Leichnam Jesu ins Grab gelegt wurde, während seine Seele gleichzeitig woanders hinging.
Die Vorstellung, dass der Mensch eine Seele hat, die nach dem Tode weiterlebt, ist sowieso keine biblische Lehre. Stattdessen lehrt die Bibel, dass die Toten ohne Bewusstsein sind: „Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts“ (Prediger 9,5).
Wenn Jesus dem Verbrecher nicht sagte, er würde mit ihm an jenem Tag im Paradies sein, was meinte er dann? Der reumütige Verbrecher kam während der Kreuzigung mit Jesus zur Besinnung (Lukas 23,39-41). Er sagte Jesus: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (Vers 42). Wie jeder andere Mensch, der dem Tod ins Angesicht starrt, suchte er Trost und Ermutigung. Jesus enttäuschte ihn nicht.
Jesu Antwort wird oft missverstanden, weil die Interpunktion in Lukas 23, Vers 43, die im Urtext ursprünglich nicht existierte, die Bedeutung einer gewöhnlichen hebräischen Redewendung, die zu Jesu Lebzeiten bekannt war, entstellt. (Die Interpunktion, wie es sie in der heutigen deutschen Bibel und in anderen Übersetzungen gibt, ist erst viele Jahrhunderte nach dem Abfassen der biblischen Bücher hinzugefügt worden.)
Vers 43 sollte daher lauten: „Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradies sein.“ Die Bekräftigung mit dem Wort „heute“ war „ein gewöhnliches hebräisches Idiom, das häufig im Sinne einer ernsthaften Betonung benutzt wurde“ (The Companion Bible, 1990, Anhang Nr. 173, Seite 192).
Jesus meinte gar nicht, dass der sterbende Mann an jenem Tag ins Paradies fahren würde. Jesus ermutigte ihn mit der ernsthaften Bekräftigung, dass eine Zeit kommen wird, in der Gottes Reich auf Erden errichtet sein und der Verbrecher durch eine Auferstehung wieder leben und Jesus wiedersehen wird. Christus konnte dies voraussagen, weil er die reumütige Geisteshaltung des Mannes wahrnahm.
Vergessen wir nicht: Als Jesu Ankläger ihn vor Pontius Pilatus brachten, stellte er gegenüber Pilatus fest: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). Mit dieser klaren Aussage bestätigte Jesus, dass sein Reich bzw. seine zukünftige Regierung erst in der Welt von morgen existieren wird. Jesus wird das Reich Gottes nach seiner Rückkehr zur Erde etablieren (Offenbarung 11,15).
Die Worte, die Jesus an den gekreuzigten Verbrecher richtete, kann man nur dann richtig auslegen, wenn man den zeitlichen Ablauf der in der Bibel offenbarten Auferstehungen versteht:
„Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird“ (1. Korinther 15,22-24). Der Schächer am Kreuz wartet also im Grab auf seine Auferstehung, um eines Tages bei Jesus im Paradies zu sein.