Wie beteiligen wir uns an einer offenen Aussprache, bei der es unterschiedliche Standpunkte gibt, ohne in einen Konflikt zu geraten?
Von Gary Petty
Christen wissen, dass für ihren Umgang miteinander eine Einigkeit des Sinnes und der Zielsetzung wichtig ist. Das geschieht aber nicht von selbst. Nein, es kann bedeuten, dass wir unseren eigenen Willen – und unsere eigenen Meinungen – dem Willen Gottes oder den Meinungen anderer, die Gott ebenfalls berufen hat, unterstellen müssen.
Wir leben jedoch heute in einer Gesellschaft, die großen Nachdruck auf die persönlichen Rechte des Einzelnen legt. Auch wir fühlen uns sehr wahrscheinlich gekränkt, wenn wir meinen, dass unsere persönlichen Rechte beschnitten worden sind.
Das Result ist oft Konflikt. Konflikt ist eines der Hauptwerkzeuge Satans bei seinem Versuch, Gottes Volk zu zertrennen und zu erobern.
Wie meiden wir solche Konflikte? Wie beteiligen wir uns an einer offenen Aussprache, bei der es unterschiedliche Standpunkte gibt, ohne in einen Konflikt zu geraten und uns so in die Hände Satans zu begeben? Wie erreichen wir einen Konsens mit anderen Christen?
Christen werden bei der Erfüllung des Auftrags, den Jesus seiner Kirche gegeben hat, in Einigkeit voranschreiten in dem Maße, in dem wir Gott erlauben, einen Geist der demütigen Zusammenarbeit in uns zu schaffen. Zusammenarbeit erfordert, dass jeder persönliche Opfer beim Erreichen eines gemeinsamen Ziels bringt – in unserem Fall ist das Ziel das Predigen des Evangeliums vom Reich Gottes und das Trachten nach seiner Gerechtigkeit.
Anders ausgedrückt: Zusammenarbeit erfordert, dass wir lernen, Konflikte zu meiden. Aber wie schaffen wir das?
Die Gabe des Feingefühls
Zum Meiden von Konflikten und zur Förderung eines Geistes der Zusammenarbeit gibt es einige Schlüssel. Einer davon – ein ungewöhnlicher Charakterzug heute – ist die Gabe des Feingefühls.
Wahrig Deutsches Wörterbuch definiert Feingefühl als „Fähigkeit, Stimmungen zu erspüren und entsprechend zu handeln“. Nachfolgend einige biblische Prinzipien bezüglich des Feingefühls – ein wichtiger Faktor beim Meiden von Streit.
• Lernen Sie die Kunst der „linden Antwort“. In Sprüche 15, Vers 1 lesen wir: „Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort erregt Grimm.“ Der bekannte amerikanische schwarze Erzieher Booker T. Washington (1856-1915), Gründer des Tuskegee Institute in Alabama, ist das Thema einer interessanten kurzen Erzählung, die dieses Prinzip veranschaulicht. Kurz nachdem er zum ersten Präsidenten des Tuskegee Institute wurde, ging er zu Fuß durch ein exklusives Wohnviertel der Stadt, als eine weiße Frau ihn fragte, ob er sich durch Holzhacken etwas Geld verdienen wolle.
Washington nahm die Arbeit an, hackte das Holz klein und trug es ins Haus. Dort erkannte ihn die Tochter des Hauses, und am nächsten Tag erschien die verlegene Mutter in seinem Büro, um sich zu entschuldigen. Washington soll geantwortet haben, dass er gerne körperliche Arbeit verrichte und seinen Freunden gerne einen Gefallen tue. Seine Demut beeindruckte die Frau so sehr, dass sie bei der Sammlung von Tausenden von Dollar für das Tuskegee Institute mitwirkte.
• Um Konflikte beizulegen, müssen wir bemüht sein, den Standpunkt des anderen zu verstehen. Sie können selten einen Menschen von Ihrem Argument überzeugen, wenn Sie nicht verstehen, warum die Person einen anderen Standpunkt vertritt. Deshalb müssen wir denen, mit denen wir nicht übereinstimmen, respektvoll gegenübertreten.
Paulus schrieb an die Gemeinde zu Korinth: „Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben“ (1. Korinther 9,19-23; alle Hervorhebungen durch uns).
• Wenn Sie jemandem in einer Konfliktsituation gegenübertreten müssen, wählen Sie den Zeitpunkt, den Treffpunkt und Ihre Worte bedacht aus. Ab und zu kann es aus dem Wunsch heraus, Konflikt zu meiden oder beizulegen, vorkommen, dass wir Druck ausüben und noch mehr Verletzungen und Missverständnisse schaffen. Wenn wir Gottes Weg gehen, ist es unmöglich, diejenigen nicht zu kränken, die Gott gegenüber feindselig eingestellt sind. Aber mögen sie von unserem Gehorsam gegenüber Gott gekränkt sein, nicht von unserem Anderssein.
Eines der besten Beispiele von außergewöhnlichem Feingefühl und der bedachten Auswahl des Zeitpunktes war das von Königin Ester. Als ein Komplott zur Vernichtung des jüdischen Volkes aufgedeckt wurde, wusste sie, dass sie, um ihr Volk zu retten, ihren Mann mit der Tatsache würde konfrontieren müssen, dass sein Topassistent, Haman, Völkermord gegen die Juden plante.
Ester nahm ein großes Risiko auf sich, denn niemand durfte vor dem König erscheinen, es sei denn, dass er dies ausdrücklich gebilligt hatte. Darüber hinaus musste sie ihre jüdische Herkunft offenbaren und somit ihre Hinrichtung mit ihrem Volk aufs Spiel setzen.
Ester bereitete sich vor, indem sie zunächst Gottes Willen durch Fasten suchte: „Ester ließ Mordechai antworten: So geh hin und versammle alle Juden, die in Susa sind, und fastet für mich, dass ihr nicht esst und trinkt drei Tage lang, weder Tag noch Nacht. Auch ich und meine Dienerinnen wollen so fasten. Und dann will ich zum König hineingehen entgegen dem Gesetz. Komme ich um, so komme ich um“ (Ester 4,15-16). Wir können über ihr Feingefühl und ihre Aufmerksamkeit bei der Entscheidung des richtigen Zeitpunktes im Angesicht dieses Übels und über Gottes anschließendes Eingreifen im Buch Ester Kapitel 5 bis Kapitel 7, Vers 10 lesen.
• Suchen Sie das Positive in der anderen Person, bevor Sie Kritik anbringen. Das bedeutet, dass wir gelegentlich über die Probleme anderer Menschen und selbst über unsere eigenen Gefühle des Verletztseins um des Wohles der anderen Person willen hinwegsehen müssen.
Gideon stand einer solchen Situation gegenüber, wie sie in Richter 8, Vers 1 festgehalten wird: „Da sprachen die Männer von Ephraim zu ihm: Warum hast du uns das angetan, dass du uns nicht riefst, als du in den Kampf zogst gegen die Midianiter? Und sie zankten heftig mit ihm.“ Gideons kleine Streitmacht hatte den Löwenanteil des harten Kämpfens ausgeführt, während den Ephraimitern die Ehre zuteil wurde, die Führer des Feindes gefangen zu nehmen.
Trotzdem waren die Ephraimiter verärgert, weil Gideon sie in seine Streitmacht nicht aufgenommen hatte, sondern sie nach der Schlacht zur Sperrung der Überquerungsstellen am Fluss eingeteilt hatte. Anstatt sie für ihre Beschwerden zu tadeln, lobte Gideon sie für ihre Leistungen, und deshalb „ließ ihr Zorn von ihm ab“ (Vers 3).
Dies bedeutet freilich nicht, dass wir eitle Schmeicheleien verteilen und dadurch versuchen sollen, Menschen durch falsches Lob zu täuschen. Hier geht es um die ehrliche Anerkennung der Leistung einer anderen Person. Das kann dazu beitragen, dass sich die Person für Ihre Ideen öffnet.
Lob vor Zurechtweisung
Das Muster für diese Vorgehensweise finden wir in den sieben Sendschreiben, die Jesus an die sieben Gemeinden in Kleinasien richtete (Offenbarung, Kapitel 2-3). In dem ersten dieser Sendschreiben sagte Christus als Erstes den Ephesern: „Ich kenne deine Werke und deine Mühsal“ (Offenbarung 2,2).
Jesus wusste von dem kraftvollen Predigen des Evangeliums in Kleinasien. Er kannte die große Wirkung der Wahrheit auf die ganze Stadt Ephesus und wusste von dem Mitwirken der ganzen Gemeinde beim Predigen des Evangeliums. Er lobte sie mit den Worten: „[Du] hast Geduld und hast um meines Namens willen die Last getragen und bist nicht müde geworden“ (Vers 3).
Jesus lobte sie außerdem, weil sie falsche Lehrer zurückgewiesen hatten: „Ich . . . weiß, dass du die Bösen nicht ertragen kannst; und du hast die geprüft, die sagen, sie seien Apostel, und sind’s nicht, und hast sie als Lügner befunden“ (Vers 2). Die Epheser hatten offensichtlich die Ermahnungen von Paulus und Timotheus bezüglich falscher Lehrer beherzigt. Mit Erfolg begegneten sie dieser Herausforderung und waren trotz dieses anstrengenden Prozesses nicht müde geworden (Vers 3).
Als Nächstes lesen wir eine wichtige Ermahnung, denn Jesus hatte nicht nur Lob für die Epheser: „Aber ich habe gegen dich, dass du die erste Liebe verlässt. So denke nun daran, wovon du abgefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke!“ Dennoch fing Jesus erst mit Lob statt mit Tadel an.
Ein Brief, den der amerikanische Präsident Abraham Lincoln am 26. April 1863 während des amerikanischen Bürgerkrieges an einen seiner führenden Generäle schrieb, gibt uns ein hervorragendes menschliches Beispiel der Umsetzung dieses Prinzips. Die Armee der Nordstaaten hatte aufgrund schlechter Führung eine Niederlage nach der anderen erlitten.
General Joseph Hooker hatte die Kriegspolitik des Präsidenten öffentlich kritisiert. Wenn Lincoln seinen persönlichen Gefühlen gefolgt wäre, hätte er Hooker vom Dienst entlassen; jedoch waren Tausende von Soldaten im Begriff, sich von der Truppe unerlaubt zu entfernen. Daher wusste Lincoln, dass er diese Angelegenheit sorgsam anzugehen hatte. Nachfolgend der Brief, den er an General Hooker schrieb (wie dieser in Dale Carnegies Buch How to Win Friends and Influence People, 1964, Seite 173, zitiert wird):
„Ich habe Sie an die Spitze der Armee des Potomac gesetzt. Freilich habe ich dies getan, weil es für mich genügend Gründe dafür gibt, und doch meine ich, dass es für Sie am besten ist zu wissen, dass es einige Dinge gibt, bei denen ich mit Ihnen nicht voll zufrieden bin. Ich glaube, dass Sie ein tapferer und tüchtiger Soldat sind, was mir freilich gefällt. Außerdem glaube ich, dass Sie Ihren Beruf nicht mit der Politik vermengen, und darin haben Sie recht. Sie haben Selbstvertrauen, welches eine wertvolle, wenn nicht sogar unerlässliche Eigenschaft ist. Sie sind ehrgeizig, was im vernünftigen Rahmen gut statt schädlich ist.
Aber ich meine, dass Sie sich . . . von Ihrem Ehrgeiz hinreißen ließen und sich [einem anderen General] mit aller Kraft entgegenstellten, wodurch Sie Ihrem Land und einem ehrenhaften und ausgezeichneten Bruderoffizier großen Schaden zufügten. Ich habe glaubwürdige Berichte gehört, wonach Sie kürzlich gesagt hätten, sowohl die Armee als auch die Regierung brauchten einen Diktator. Ich habe Ihnen Ihre Kommandantur nicht wegen, sondern trotz dieser Äußerung gegeben. Nur solche Generäle, die Erfolg haben, können sich zu Diktatoren machen. Was ich jetzt von Ihnen erwarte, ist militärischer Erfolg, und das Risiko einer Diktatur nehme ich auf mich.
Ich befürchte sehr, dass der Geist, zu dessen Entstehung in der Armee Sie beigetragen haben und wonach der Oberbefehlshaber kritisiert und ihm Informationen vorenthalten werden, nun Sie treffen wird. Ich werde Sie nach besten Kräften bei der Niederwerfung dieses Geistes unterstützen.
Weder Sie noch Napoleon, wenn er wieder lebte, können die Armee zum Guten nutzen, wenn ein solcher Geist vorherrscht. Seien Sie jetzt vor vorschnellem Handeln auf der Hut. Seien Sie davor auf der Hut, aber schreiten Sie mit Energie und schlafloser Wachsamkeit voran, und bringen Sie jetzt uns Siege ein!“
Als Befehlshaber der Armee hatte Hooker versagt, aber Lincoln verhinderte einen Aufstand unter seinen Truppen. Wenn wir vor einer möglichen Konfrontation stehen, müssen wir wie Präsident Lincoln an gute Motive appellieren. Es ist viel wirksamer zu sagen, „Schatz, ich weiß, wie viel Du zu tun hast, aber ich brauche wirklich Deine Hilfe in der Garage beim Umräumen, weil ich das allein nicht schaffe“, anstatt zu sagen: „Du bist so faul – Du hilfst mir nie. Seit zwei Wochen bin ich hinter Dir her mit der Bitte, Du mögest mir beim Umräumen in der Garage helfen.“
Wenn wir mit einem Glaubensbruder – oder mit unserem Ehepartner – die Übereinstimmung suchen, sollten wir uns Christi Unterweisung über den Umgang mit anderen in Matthäus 18 vor Augen führen und im Gebet um einen demütigen Geist bitten. Die Liebe Gottes zu uns sollte sich in unseren Beziehungen mit anderen widerspiegeln. In der Kirche dürfen wir die Tatsache nie aus den Augen verlieren, dass wir alle Gottes Kinder sind – wir sind alle Mitglieder einer Familie.
Konflikt ist die Frucht der Gesinnung Satans. Sie entspringt einem Geist des Wettstreits, der sich hauptsächlich nach innen richtet. Ihre Beschaffenheit bringt es mit sich, dass Konflikt nicht zum Konsens führt. Persönliche Demut hingegen – gegenüber Gott und seinem Wort – und ein Geist der Zusammenarbeit sind die Mittel, durch die Gott den Konsens unter Gläubigen bewirkt.