Die apokalyptischen Reiter
Sie fasziniert die abendländische Welt mehr als jeder andere Teil der Bibel: die Apokalypse. Manches geflügelte Wort aus diesem letzten Buch der Bibel hat das sprachliche Bewusstsein der westlichen Kultur geprägt: das große Babylon, Harmagedon usw. Unter den prophetischen Symbolen, die wir in der Offenbarung des Johannes finden, sind auch die vier apokalyptischen Reiter. Sollen wir uns diese Reiter nur als Fabelwesen vorstellen – Gestalten, die immer wieder die Fantasie der Sciencefiction-Autoren angeregt haben? Können Sie sich vorstellen, dass die symbolische Bedeutung der vier Reiter heute unmittelbar mit uns und unserer Zukunft zu tun hat?
Das Buch der Offenbarung ist wie das Drehbuch eines Zukunftsfilms, das dem Leser erlaubt, sich mitten in die letzten Jahre unseres menschlichen Zeitalters zu versetzen. Gemeint ist die Zeit unmittelbar vor dem Anbruch einer neuen Ära, wenn der Messias auf die Erde zurückkommen wird, um unserer von Krisen geschüttelten Welt endlich dauerhaften Frieden zu bringen.
Die Prophezeiungen der Bibel haben in früheren Zeiten das Denken mancher Gläubigen stark beeinflusst. So war der pragmatische Theologe Martin Luther überzeugt, dass der „liebe jüngste Tag“ zu seinen Lebzeiten kurz bevorstünde oder zumindest in spätestens 100 Jahren eintreffen würde. Noch während er das Alte Testament übersetzte, befürchtete Luther, die Wiederkunft Christi könnte sich noch vor dem Abschluss seiner Arbeit ereignen.
Die moderne Theologie vertritt freilich einen ganz anderen Standpunkt. Die meisten der heutigen Bibelgelehrten glauben nicht mehr daran, dass sich die Prophezeiungen der Offenbarung auf die Zukunft beziehen. Stattdessen reduzieren sie die Offenbarung des Johannes auf eine Beschreibung der Verfolgungen der frühen Christengemeinden.
Schon im 3. Jahrhundert n. Chr. wurde das Buch der Offenbarung nicht mehr für wert erachtet, zum neutestamentlichen Kanon gerechnet zu werden. Hieronymus und andere Kirchenväter sahen in den Endzeitvisionen des Apostels Johannes eine Ermutigung für religiösen Fanatismus. In seinen Symbolen, die von einigen als antirömisch ausgelegt wurden, sahen sie sogar eine mögliche Ursache für zivilen Ungehorsam.
Der Kirchenlehrer Augustinus (354-430 n. Chr.) argumentierte, was schon bald der offizielle Standpunkt der Staatskirche werden sollte: Das Buch der Offenbarung solle nicht wörtlich oder als zukunftsweisend angesehen werden, sondern lediglich als eine Allegorie des Kampfes zwischen Gut und Böse bzw. zwischen der Kirche und der Welt. Binnen kurzer Zeit wurde diese Neuinterpretation der Johannes-Visionen zum anerkannten Lehrsatz eines abgewandelten Christentums, das nach dem Ableben der ersten Christengeneration allmählich entstanden war.
Können wir der heutigen Theologie beruhigt Glauben schenken? Oder sind wir es uns selbst schuldig, den Glauben der Apostel und der ersten Christen zu erforschen, damit wir von dem zukünftigen Geschehen auf der Welt nicht überrascht werden? Versteht man die symbolische Bedeutung des ersten der vier apokalyptischen Reiter, so verwundert es nicht, dass nach den Vorstellungen einiger Kirchenlehrer die Gläubigen späterer Generationen das Buch der Offenbarung lieber ignorieren sollten.