Von Scott Ashley
„Höre, Israel, der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERR“ (Lutherbibel 1545). Diese einfache Proklamation des Mose in 5. Mose 6, Vers 4, die am Anfang des Gebets steht, das gewöhnlich als Schma (hebräisch für „Höre“) bezeichnet wird, hat bei vielen, die verstehen wollten, wer oder was Gott ist, erhebliche Verwirrung gestiftet.
Da sie hier gelesen haben, dass Gott einzig oder eins ist, haben die Juden jahrhundertelang die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Jesus von Nazareth der Sohn Gottes sein könnte, auf der gleichen göttlichen Ebene wie Gott, der Vater.
Frühe katholische Theologen, die den gleichen Vers gelesen haben, hatten Schwierigkeiten damit, in der Dreieinigkeitslehre einen Gott zu beschreiben, der aus dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist besteht, wobei diese Wesen eigenständige Personen sein sollten, gleichzeitig aber auch ein einziger dreieiniger Gott.
Wie sollten wir dann diesen Vers verstehen?
Eines der Hauptprinzipien für das Verständnis der Bibel ist, dass wir alle Schriftstellen zu einem Thema berücksichtigen müssen. Nur dann werden wir zu einem vollständigen und korrekten Verständnis des Themas gelangen.
Andere Bibelstellen sagen uns klar, dass zwei eigenständige Wesen, der Vater und Jesus Christus, der Sohn, beide Gott sind (Hebräer 1,8; Johannes 1,1. 14). Wir sollten uns deshalb fragen, ob die Schma hier zur zahlenmäßigen Einheit Gottes Stellung nimmt oder sich auf etwas völlig anderes bezieht.
Mehrfache Bedeutungen des hebräischen Wortes, das als „eins“ bzw. „einiger“ übersetzt wird
Diejenigen, die die hebräische Sprache studieren, stehen vor der Herausforderung, dass Hebräisch einen wesentlich begrenzteren Wortschatz hat im Vergleich zu anderen Sprachen wie Deutsch oder Englisch. Das bedeutet, dass ein einziges hebräisches Wort mehrere Bedeutungen haben kann und oft auch hat, was manchmal eine genaue Übersetzung erschwert. Ein gutes Beispiel dafür ist das hebräische Wort echad in 5. Mose 6, Vers 4, das als „einiger“, „einzig“ und „allein“ übersetzt wurde.
Seine Bedeutung schließt die Zahl eins mit ein, ist aber auch mit solchen Bedeutungen verbunden wie „ein und derselbe“, „wie ein Mann zusammen [vereint]“, „jeglicher, jeder“ und „erster [in der Reihenfolge oder an Bedeutung]“ (Brown, Driver und Briggs, A Hebrew and English Lexicon of the Old Testament, 1951, Seite 25). Es kann auch als „allein“ übersetzt werden, wie die Lutherbibel das an dieser Stelle macht (William Holladay, A Concise Hebrew and Aramaic Lexicon of the Old Testament, 1972, Seite 9). Wie bei vielen anderen hebräischen Wörtern lässt sich die genaue Bedeutung am besten aufgrund des Kontextes verstehen.
In diesem Fall wären mehrere Interpretationen grammatikalisch korrekt und stünden auch in Übereinstimmung mit anderen biblischen Aussagen.
Im Schma hat Mose den Israeliten vielleicht einfach gesagt, dass der wahre Gott, ihr Gott, der erste – der Höchste was Priorität anbelangt – in ihren Herzen und ihrem Verstand sein sollte. Die junge Nation hatte sich aus der Sklaverei in einer Kultur, in der die Ägypter an viele Götter glaubten, erhoben und war im Begriff in ein Land zu ziehen, dessen Bewohner von der Anbetung vieler angeblichen Götter und Göttinnen der Fruchtbarkeit, des Regens, des Krieges, des Reisens usw. geprägt waren. Durch Mose hat Gott die Israeliten eindringlich vor den Gefahren gewarnt, denen sie ausgesetzt sein würden, wenn sie ihm den Rücken zukehren und anderen Göttern folgen würden.
Diese Interpretation – dass Gott die erste Priorität für die Israeliten sein sollte – findet starke Unterstützung durch den Kontext. Gleich im nächsten Vers sagt Mose: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“
Dieser Abschnitt ist der Kern einer über mehrere Kapitel laufenden Diskussion über die Vorteile und Segnungen einer ganzherzigen Nachfolge Gottes und des Vermeidens der götzendienerischen Bräuche der Völker, die aus dem verheißenen Land vertrieben werden sollten. Jesus selbst zitierte 5. Mose 6, Verse 4-5 als das „höchste und größte Gebot“ im Gesetz (Matthäus 22,36-38; Markus12,28-30).
Eine andere Bedeutung des hebräischen Wortes echad, „allein“, passt ebenfalls zum Kontext. Demnach sollte allein der wahre Gott der Gott Israels sein; die Israeliten sollten keinen anderen Gott neben ihm haben.
Das ist möglicherweise die Art und Weise, wie der Schriftgelehrte Jesu Zitat des Textes in Matthäus 12, Verse 29-30 verstanden hat. Der Schriftgelehrte antwortete in Vers 32: „Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer [griechisch heis, was mit echad in seinen vielfältigen Bedeutungen übereinstimmt], und ist kein anderer außer ihm.“ Das deutet an, wie der Schriftgelehrte das Wort an dieser Stelle verstand: im Kern als „einer“ oder „allein“.
Das würde nicht ausschließen, dass Jesus Christus zusammen mit dem Vater Gott wäre. Stattdessen gibt es keinen anderen Gott als den wahren Gott. Das heißt, außerhalb der Gottfamilie oder der Gottart, die zurzeit aus zwei göttlichen Wesen besteht, dem Vater und dem Sohn, gibt es keinen Gott. Kurz gefasst, die Gottfamilie allein ist Gott.
Eine weitere Sicht des Schma basiert auf dem Wortstamm, von dem echad abgeleitet ist – achad. Dieses Wort bedeutet „vereinen“ oder „den einen oder anderen Weg gehen“ (Strong’s Exhaustive Concordance of the Bible). Mit anderen Worten, echad kann auch „in Einigkeit“ bedeuten oder eine Gruppe, die als eins vereint ist, bezeichnen.
Beispiele mit „eins“, die eine Mehrzahl bedeuten
In mehreren Versen hat echad eindeutig die Bedeutung von mehr als einer Person, die als Gruppe vereint sind. In 1. Mose 11, Vers 6 sagt Gott über diejenigen, die den Turm zu Babel bauten: „Seht nur, ein [echad] Volk sind sie . . .“ (Einheitsübersetzung). In 1. Mose 2, Vers 24 sagt er: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein [echad] Fleisch.“
Wenn wir von einer großen Menschengruppe lesen, die eins werden oder ein Mann und eine Frau, die in der ehelichen Vereinigung ein Fleisch werden, dann verstehen wir, dass mehrere Personen beteiligt sind. Wir gehen nicht davon aus, dass eigenständige Einzelpersonen, wenn sie im Geist und ihren Zielen vereint sind, auch physisch zu einem einzigen Wesen verschmolzen sind.
Gott, der Vater, und Jesus Christus der Sohn sind eindeutig eines Sinnes und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Jesus sagte über seinen Auftrag: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk“ (Johannes 4,34). Und: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Johannes 5,30).
Jesus beschrieb ihre Beziehung wie folgt: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30). Christus betete, dass seine Nachfolger, sowohl zu jener Zeit als auch in der Zukunft, im Sinn und Vorsatz genauso vereint sein würden, wie er und der Vater es sind. „Ich bitte aber nicht allein für sie [die Jünger], sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein“ (Johannes 17,20-21).
Ganz gleich welche Übersetzung wir akzeptieren – ob „Der Herr unser Gott, der Herr ist zuerst“ oder „Der Herr unser Gott, der Herr allein“ oder „Der Herr unser Gott, der Herr ist eins [in Einheit]“ – keine von ihnen begrenzt Gott auf ein einziges Wesen. Und im Licht der Schriftstellen, die wir gesehen haben, und anderer Schriftstellen ist klar, dass Gott eine Mehrzahl von Wesen ist – eine Mehrzahl in Einheit. Mit anderen Worten, Gott, der Vater, und Jesus, der Sohn, bilden eine Familie, die perfekt als eins vereint ist.