Von der Redaktion
Es rast der See und will sein Opfer haben. Gemeint ist der aufgewühlte See aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell, auf welchen sich der Held der Erzählung wagt. Ähnliches erlebt man jedes Mal, wenn enttäuschte Menschen auf die fehlende Glaubwürdigkeit ihrer leider nur scheinbaren Vorbilder reagieren. Vorbildsein ist gewiß nicht einfach, aber Vorbilder braucht unsere Welt dringend.
Als Beispiel für den rasenden See sei die Reaktion auf die erste Parteispendenaffäre unseres neuen Jahrhunderts erwähnt. Eine Parteiführung, die 1982 die Regierungsgeschäfte unseres Landes mit dem Anspruch übernahm, eine geistig-moralische Wende herbeizuführen, stellt sich zum Schluß als genauso menschlich wie alle ihre Vorgänger heraus. Es sei denn, wie bemerkt wurde, daß es zum Normalsten der Welt gehöre, wenn man mit Aktenkoffern durch Deutschland fährt, die mit Tausendmarkscheinen vollgestopft sind.
Die Verdienste eines Altbundeskanzlers um die Wiedervereinigung Deutschlands können nicht geschmälert werden. Andererseits trägt er auch die Verantwortung für die Reaktion eines jungen Menschen auf diese Affäre, der meinte: „Daß die Poltik ein schmutziges Geschäft sein kann, wußte ich. Aber wenigstens ihn habe ich für sauber gehalten.“
Oder die Volksvertreter einer Partei, die sich dem Schutz der Umwelt unseres Landes verschrieben haben. Kernkraftwerke möglichst schnell abschalten lassen, Ökosteuer für Benzin durchsetzen, Ausbau von Flughäfen inWestfalen verhindern – alles um der Umwelt willen. Dann erfährt man, daß einige der im Bundestag mitwirkenden Angehörigen dieser Partei die paar hundert Meter zwischen dem Reichstagsgebäude in Berlin – dem Sitz des Deutschen Bundestags – und ihrem Büro nicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigen, sondern sich in vom Steuerzahler bezahlten Taxen fahren lassen, auch an schönen Tagen. Die Reaktion eines Vertreters dieser Partei, vom Fernsehen bei diesem Verhalten ertappt, man betreibe Verleumdung, zeugt von Unkenntnis der deutschen Literatur: Der See will halt seine Opfer haben.
Auch in Kreisen der Religion – vermeintlich für Ethik und Religion verantwortlich – sucht man oft vergeblich nach Vorbildern. Nach einem Bericht der Kansas City Star, der am 31. Januar 2000 veröffentlicht wurde, ergab eine vertrauliche Umfrage unter 3000 römisch-katholischen Priestern in den USA eine Infizierungsrate mit dem Immunschwächevirus HIV, welche viermal so hoch sein soll wie der Durchschnitt in der US-amerikanischen Bevölkerung. Ein Kirchenvertreter reagierte darauf mit der Feststellung, es bestehe offensichtlich die Notwendigkeit, die Geistlichen die Geistlichen der Kirche besser über Safersex zu informieren. Die Frage einer bekannten Rundfunkkommentatorin in den USA dazu: „Haben diese Kerle nicht einen Eid auf das Zölibat geschworen?“
In unserem Leitartikel sind wir bemüht, Eltern Tips für die moralische Erziehung ihrer Kinder in einer Welt zu geben, die ihre moralische Orientierung verloren hat. Die hier aufgeführten Beispiele sollen für Eltern – und uns alle – eine Lektion sein: Über Moral zu reden ist eine Sache, diese Moral jedoch vorzuleben eine ganz andere. Vorbilder braucht unsere Welt: Vorbilder, die nicht zu sagen brauchen: „Tu das, was ich sage, aber achte bitte nicht auf das, was ich selbst tue.“