Von der Redaktion
Seit dem 24. November 2000, als bei einem in Schleswig-Holstein geschlachteten Rind der erste originär deutsche BSE-Fall festgestellt wurde, weiß man, daß in dem einst als „BSE-frei“ deklarierten Deutschland die „Bovine Spongiforme Enzephalopathie“, kurz BSE genannt, auch heimische Rinder heimsucht. Die Krankheit führt bei Rindern zum sogenannten Wahnsinn, zumindest zur Zerstörung der Lenkfunktionen des Gehirns.
Es ist verständlich, daß die Menschen Angst vor BSE haben. Man meint, daß sie übertragbar sei und daß eine neue Variante der immer tödlich endenden Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) auf eine Ansteckung mit BSE zurückzuführen sein könnte. Seit Februar 1985 wurden z. B. in Großbritannien 180 000 mit BSE befallene Rinder gezählt; dort starben seither 85 Menschen an der CJK, obwohl ein kausaler Zusammenhang zwischen BSE und diesen CJK-Fällen von einigen in Frage gestellt wird.
Die Maßnahmen, um den Verbraucher vor BSE-infiziertem Fleisch zu schützen, liefen bald nach der Entdeckung im Norden Deutschlands an. Anfang Dezember kam das vollständige Verbot der Verfütterung von Tiermehl an Nutztiere, gefolgt von BSE-Pflichttests für Rinder, die älter als 30 Monate sind. Untersagt wurde auch die Verarbeitung von sogenanntem „Risikomaterial“, zu dem Hirn, Knochenmark und Fleisch von der Wirbelsäule gehören.
Die Mitte Februar vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen bezeugen die rasche Reaktion des Verbrauchers auf die Krise: Im Dezember 2000 wurden 50 Prozent weniger Rindfleisch in Deutschland für den Binnenmarkt verarbeitet. Bei alledem, was seit Ende November passierte, ist es jedoch bemerkenswert, daß es in Deutschland bislang keinen einzigen nachweisbaren Zusammenhang zwischen einer Erkrankung an CJK und dem Verzehr von BSE-infiziertem Rindfleisch gibt.
Angesichts der heftigen öffentlichen Reaktion auf BSE läßt sich die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber einer anderen Krankheit mit deutlich nachweisbarer Ursache nicht erklären. Jährlich sterben ca. 35 000 Menschen in der Bundesrepublik an Lungenkrebs. Er ist die häufigste Tumorerkrankung bei Männern und die zweithäufigste bei Frauen. Die Heilungschancen sind äußerst gering: Nur fünf Prozent der Neuerkrankten überleben die ersten fünf Jahre. Es ist allgemein bekannt, daß der Tabakkonsum eine Hauptursache für die Entstehung von Lungenkrebs ist. Bei täglichem Konsum von 40 Zigaretten über 20 Jahre ist das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, 20mal höher als beim Nichtraucher.
Der Verbraucher wird vor BSE-Fleisch, jedoch nicht vor Tabak geschützt. Es überrascht nicht, daß die Tabakindustrie für die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher eintritt. Dazu der „British American Tobacco“-Konzern: „Das Rauchen soll eine Entscheidung von erwachsenen Verbrauchern sein in Kenntnis der Risiken, die mit dem Rauchen zusammenhängen.“ Da könnte man dumm fragen: Warum verwehrt man dem Verbraucher die gleiche Entscheidungsfreiheit bei BSE-Fleisch? Man stellt sich da den Kettenraucher vor, der neuerdings kein Rindfleisch mehr ißt.
BSE nein, Tabakkonsum und Lungenkrebs ja: Wir beklagen das zweierlei Maß, das unsere Gesellschaft bei einem so klaren Fall von Ursache und Wirkung anlegt. Dieses Verhalten ist jedoch nicht neu; es hatte seinen Anfang im Garten Eden, als unsere Ureltern allgemein verbindliche Werte verwarfen und entschieden, selbst über Gut und Böse zu befinden.