Michael Josephson über Charakter und Werte
Gute Nachrichten: Wann haben Sie das Institut für Ethik und die „Charakter-zählt-Koalition“ gegründet, und was hat Sie dazu veranlaßt?
Michael Josephson: Nach einer ziemlich erfolgreichen Karriere im Bereich der Ausbildung von Juristen habe ich 1987 das Institut gegründet. Zuvor, im Jahre 1976, durfte ich eine mein Leben stark verändernde Erfahrung miterleben: die Geburt unseres ersten Kindes. Die Tatsache, daß ich für die moralische Entwicklung dieses Kindes verantwortlich sein würde, hat mein Leben sehr stark beeinflußt.
Nach Abschluß meines Jurastudiums bestand meine einzige Ansicht zum Leben darin, festzustellen, daß es falsch ist, andere abzuurteilen. Ich lebte nach dem Glaubensbekenntnis der ethischen Relativisten: „Was immer mir dient“, und war tatsächlich der Meinung, dies sei eine moralisch zu vertretende Haltung. Als Vater wurde mir jedoch klar, wie furchtbar diese Erziehungsstrategie eigentlich ist.
Ich würde mich nicht damit abfinden können, wenn aus meinem Kind ein Lügner, Betrüger oder Kinderschänder werden würde. Hiermit begann meine eigene Suche nach den, wie ich glaubte, allgemeingültigen Werten.
Die Errichtung des Instituts basierte gewissermaßen auf der Vorstellung, daß es diese grundsätzlichen Prinzipien gibt, die wir heute die sechs Charaktersäulen nennen: Vertrauenswürdigkeit, Respekt, Verantwortung, Gerechtigkeit, Anteilnahme und rechtsstaatliches Bewußtsein.
Die „Charakter-zählt-Koalition“ wurde im Jahre 1993 gegründet, um dieses Wertebewußtsein zu fördern und es den Kindern beizubringen. Zwar sind dies natürlich nicht die einzigen, dafür jedoch allgemeingültigen Werte, die uns zusammenschweißen. Die Nichtausübung dieser Grundwerte trägt zu einer Vergrößerung unseres „moralischen Ozonlochs“ bei, wenn Sie so wollen.
GN: Ich bemerkte den Ausdruck „moralisches Ozonloch“ in einer Pressemitteilung Ihrer Organisation.
MJ: Das ist der Ausdruck, den wir immer wieder verwendet haben. Es sind viele Dinge, die zu diesem Ausspruch beigetragen haben. In einer unserer Studien wurde eine Befragung von Menschen über Betrügen, Lügen, Stehlen usw. durchgeführt. Wir fragten auch, wie wichtig Religion in ihrem Leben sei. Insgesamt wurden mehr als 12 000 Leute befragt. Wir bildeten daraus zwei Gruppen und verglichen die Antworten von denen, für die Religion im Leben sehr wichtig ist, mit den Antworten derer, für die Religion im Leben unwichtig ist. Das Ergebnis war gut und schlecht zugleich, in jedem Fall aber beunruhigend. Es war zwar positiv, daß die religiös eingestellten Menschen weniger Lug und Trug im Leben anwenden, aber gleichzeitig zeigte sich, daß dies leider nicht in sehr viel geringerem Maße als bei den nichtreligiösen Menschen der Fall ist.
Eine meiner Schlußfolgerungen, die ich, wenn ich zu Menschen spreche, die sich aktiv in einer Religionsgemeinschaft engagieren, anführe, ist, daß es den Menschen in diesen Organisationen zu leicht gemacht wird. Menschen sollten nicht behaupten dürfen, Religion sei sehr wichtig in ihrem Leben, und gleichzeitig durch ihr Benehmen nicht im Einklang mit den Lehren ihrer Glaubensgemeinschaft stehen.
Mein Standpunkt ist keinesfalls Kritik an Religion an sich, sondern an dem Umstand, daß es zugelassen wird, wenn Leute sich selbst als religiös bezeichnen und nebenbei ganz offen zugeben, einen Lebensweg zu praktizieren, der nicht mit ihren religiösen Überzeugungen übereinstimmt.
Meines Erachtens ist Religion eine der wesentlichen Antworten auf unser „moralisches Ozonloch“ – wenn sie glaubwürdig, ernstgemeint und durch ein entsprechendes Verhalten gelebt wird. Aber wenn unsere eigenen religiösen Führerpersönlichkeiten es den Leuten in ihrer Gemeinde erlauben zu denken, man könne fromm werden, ohne sich fromm zu benehmen, stellt dies einen Teil des Problems dar. Die religiösen Führer sollten ihren Leuten nicht erlauben zu behaupten, sie hätten eine besondere Beziehung zu diesen wunderbaren göttlichen Prinzipien, wenn sie dann das tun, was alle anderen auch tun.
GN: Sich zu religiösen Werten zu bekennen ist nicht dasselbe wie das Ausüben dieser Werte.
MJ: Genau so ist es. Das ist es, was wir in den öffentlichen Schulen und der Gesellschaft zu vermitteln versuchen. Da wir Religion nicht verwenden können, benutzen wir Ethik und Charakterlehre, welche die gleiche Thematik behandeln.
Sie führen zum gleichen Ziel, und es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus: Ethisch zu sein bedeutet nicht, über Ethik zu sprechen, ohne sich auf einen konkreten Kodex zu berufen, sondern nur das zählt, was man tut. Gute Vorsätze allein reichen nicht aus.
GN: Ich möchte Ihnen keine Worte in den Mund legen, aber Ihre sechs Charaktersäulen scheinen auch eine Art Kodex zu sein.
MJ: Stimmt. Ein Kodex ist ja nichts Falsches, er ist nur nicht selbsttätig. Es sollte einen Kodex geben. Ich glaube an Kodexe. Aber an einen Kodex zu glauben ist nicht dasselbe, wie einen Kodex zu leben.
So steht es in der Bibel, und darum geht es bei ethischen Prinzipien. Es gibt jedoch Leute, die glauben, sich zu diesen Prinzipien zu bekennen sei genug.
GN: Wie schätzen Sie die moralische Situation Amerikas ein? Wird es uns gelingen, den Kampf gegen Lügen, Betrug und Diebstahl zu gewinnen?
MJ: Wir verlieren immer noch an Boden, aber es gibt Anzeichen für eine Besserung. Andererseits stelle ich jedoch fest, daß das Lügen heute schon zur Tagesordnung gehört. Wir verlieren das Empfinden von rechtschaffener Entrüstung und moralischer Entrüstung. Natürlich haben eine ganze Reihe Politiker, Journalisten und Geschäftsleute unser Vertrauen durch Unehrlichkeit mißbraucht, aber auch der Durchschnittsbürger trägt zur Vergrößerung des „moralischen Ozonlochs“ bei; sei es durch Benutzung eines Radardetektors im Auto, um Geschwindigkeitsbegrenzungen ungestraft zu überschreiten; durch Lügen bei Angabe des Alters eines Kindes, um Geld zu sparen, oder durch Angabe einer falschen Adresse, um das Kind in eine bessere Schule zu bekommen.
Dies ist alles unehrlich. Da heutzutage der Durchschnittsbürger schnell seine Ausreden und Alibis zum Lügen findet, haben wir die Situation, daß mehr und mehr Menschen mit ihrem Verhalten die Wichtigkeit von Ehrlichkeit untergraben, während redliche Menschen das Richtige sogar dann tun, wenn es mehr kostet, als sie dachten.
Heutzutage machen die meisten Menschen eine Kosten-Nutzen-Analyse nach dem Motto: „Ich würde ja ehrlich sein, aber was würde es mich kosten?“ Also, wenn es ihnen zu viele Kosten und Mühe bereiten würde, wird Ehrlichkeit einfach ignoriert. Aber auch dadurch wird im Endeffekt das „moralische Ozonloch“ nicht verursacht. Die Ursache liegt beim Durchschnittsbürger, der sich selbst als aufrecht bezeichnet und doch durch das bißchen Heuchelei einen beträchtlichen Teil zum „moralischen Ozonloch“ beiträgt.
Gerade junge Leute folgern daraus, daß all das Reden von redlichen Prinzipien nicht realistisch ist, da heutzutage nur wenige Menschen nach diesen Prinzipien leben.
GN: Menschen „verdrehen“ die Wahrheit zu ihrem eigenen Vorteil.
MJ: Das stimmt genau. Das wirksamste Mittel dagegen ist, die Leute auf Unehrlichkeit und schlechtes Benehmen in ihrem eigenen Umfeld aufmerksam zu machen. Ich bin der Meinung, daß wir eine moralische Stellung beziehen müssen, und ich sage das, weil es hilft, das zu sehen, was man ändern kann. Religionsgemeinschaften sollten sich selbst ansehen und fragen: „Wo müssen wir uns selbst reinigen?“, „Wo sind die Versuchungen?“, „Wo haben wir gefehlt?“
Dies gilt auch für journalistische und politische Organisationen. Statt dessen kritisieren die Religionsgemeinschaften die Politiker, die Politiker kritisieren wiederum die Journalisten, aber niemand löst das Problem durch Selbstprüfung.
Wir müssen gewillt sein zu untersuchen, wo die religiöse Gesellschaft uns im Stich gelassen hat. Einige Religionsgemeinschaften sind Teil des Problems geworden. Ein mir bekannter Fernsehevangelist verwendete irgendwelche Phrasen, um die tatsächliche Anzahl seiner Fernsehzuschauer zu verdrehen.
Für ihn ist das nur eine kleine Notlüge. Ich hinterfrage immer: „Welche Botschaft geht von solchen Menschen aus?“ Wenn man die Wahrheit „dehnt“, um sie übertrieben, verführend oder verwirrend darzustellen, ist es doch kein Wunder, wenn Menschen diesem Beispiel folgen.
GN: Wie verhält man sich im täglichen Leben Ihnen gegenüber? Werden Ihre Worte und Ihr Verhalten genau beobachtet?
MJ: Genauso ist es. Wenn man versucht, Gutes zu tun, wird man von den Mitmenschen mit einem hohen Maßstab gemessen, was auch richtig ist. Ich kann natürlich nichts anderes von Menschen erwarten, als daß sie mich an dem messen, was ich ihnen beibringen möchte.
Wenn ich gegen jemanden in sarkastischer Weise respektlos bin, kann ich nur entgegenhalten, daß ich auch selber noch ein „Werk in Entstehung“ bin.
Aber auch wenn ich ein fehlerhafter Lehrer bin, sollte man deshalb meine Botschaft nicht verwerfen. Wenn ich ein Heiliger werden müßte, um diese Wertvorstellungen zu vermitteln, wäre ich dafür nicht qualifiziert, aber ich weiß auch nicht, wer dann sonst dafür qualifiziert sein würde. Wir müssen erkennen, daß wir uns alle zusammen in diesem Kampf befinden.
Ich habe nichts gegen Kritik, aber sie sollte den Wert meiner Botschaft nicht schmälern. Wir bewegen uns in einem Zeitalter, wo eine Botschaft ignoriert wird, sobald etwas Falsches am Botschafter gefunden wird. Dies ist ein echtes Problem.
GN: Die Botschaft geht also über den Übermittler hinaus?
MJ: Ja. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir wichtige Botschaften durch meistens nicht perfekte Übermittler empfangen. Für mich ist die Botschaft Charakter, darauf kommt es mir an.
Charakter ist ein Suchen. Er ist nicht wirklich ein Ziel, weil wir es nie erreichen werden und immer für das, was wir sind, verantwortlich sein werden.
Ich stimme mit einigen sogenannten „Selbstachtungsbewegungen“ überein. Es ist jedoch ein Fehler, nur Selbstachtung zu fördern, ohne die Menschen für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen. Ich nenne dies den „Selbstachtungstrip“. Leute auf diesem „Trip“ sind mehr darauf bedacht, sich gut zu fühlen als gut zu sein.
GN: Was denken Sie über Menschen, die der Filmindustrie die Schuld am Zerfall der Werte geben?
MJ: Die Filmindustrie hat einen Anteil daran, kann aber nicht allein zur Verantwortung gezogen werden. Jeder ist für die Konsequenzen seines Verhaltens selbst verantwortlich. Sät man gute oder schlechte Dinge aus? Die Filmleute müssen individuelle und persönliche Entscheidungen treffen, welchen Beitrag sie in dieser Welt leisten wollen.
Das Problem bezieht sich aber nicht allein auf den Film, sondern auch auf Journalisten, Politiker, Geschäftsleute und religiöse Führer. Menschen sollten aufhören, ihren Beruf als Entschuldigung oder Alibi zu gebrauchen. Sie müssen einfach das Richtige tun.
GN: Herr Josephson, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Michael Josephson ist der Gründer und Vorsitzende des Joseph & Edna Josephson-Instituts für Ethik in Marina del Ray, Kalifornien. Durch das Institut hat er die „Charakter-zählt-Koalition“ gegründet, eine Partnerschaft von fast 100 regional und national erzieherisch tätigen Jugendorganisationen, welche gemeinsam über 40 Millionen junge Menschen in den USA ansprechen. 1995 wurde Michael Josephson die US-amerikanische „Auszeichnung für Redlichkeit“ vom ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Ronald Reagan, überreicht. Nähere Informationen über die „Charakter-zählt-Koalition“ können Sie vom Institut per E-Mail erfahren: cc@jiethics.org.