Politiker streiten über die Finanzierung von mehr Krippenplätzen und um das Familienbild insgesamt. Was ist bei der Debatte am wichtigsten: die berufliche Freiheit der Eltern oder das Wohlergehen des Kindes?
Von Paul Kieffer und Jesmina Allaoua
Das Ziel von Familienministerin Ursula von der Leyen ist hinlänglich bekannt: Bis zum Jahr 2013 soll sich die Zahl der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren bis auf 750 000 verdreifachen. Bundeskanzlerin Merkel hat bereits zugesagt, ein Drittel der Mehrkosten aus dem Bundeshaushalt zu übernehmen. Mit dem Ausbau der Krippenplätze sollen sich Eltern zukünftig frei entscheiden können, wie sie Familie und Beruf organisieren wollen. Ausdrücklich betonte Angela Merkel: „Wir wollen als Staat die Voraussetzung dafür schaffen, dass diese Wahlfreiheit auch gelebt werden kann“ (Der Tagesspiegel, 28. April 2007).
Mit der Forderung nach mehr Krippenplätzen setzte eine heftige Debatte ein. Dabei prallen verschiedene Lebensvorstellungen aufeinander. In der Debatte wird viel über Elternrechte und persönliche Entscheidungsfreiheit diskutiert. Gerne zieht man deshalb Studien zu Rate, die versprechen, dass Kinder in der Krippe besser sprechen lernen, sozial kompetenter und viel schneller selbständig werden als Kinder, die von ihrer Mutter zu Hause betreut werden. Andere sind überzeugt, dass die eigene Selbstverwirklichung nachrangig sein muss, weil ein Kind in seinen ersten drei Lebensjahren von den Eltern zu Hause betreut werden sollte.
Eine teils emotionale Debatte
Berufstätige Mütter, die ihre Kinder schon sehr früh in eine Kinderkrippe geben, um nach dem Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten zu können, müssen nicht selten gegen den Vorwurf kämpfen, eine „Rabenmutter“ zu sein. Sie reagieren häufig emotional auf jegliche Kritik gegenüber ihrer Entscheidung, wieder zu arbeiten statt zu Hause beim Kind zu bleiben.
So verteidigte z. B. eine Grundschullehrerin gegenüber einem Nachrichtensender ihre Entscheidung damit, dass ihr während der einjährigen Babypause der Umgang mit ihren Kollegen und die berufliche Herausforderung gefehlt haben. Sie musste wieder zurück in ihren Beruf, um zu Hause nicht frustriert und depressiv zu werden. Sie meint heute eine bessere Mutter zu sein, weil ihr die Kita die Möglichkeit gibt, ein eigenes Leben zu führen und nicht den ganzen Tag mit ihrem Kleinkind zusammen sein zu müssen.
Die dreijährige Tochter einer Rechtsanwaltsgehilfin verbringt täglich acht Stunden in einer Kindertagesstätte. Ihre Mutter glaubt, dass es eine gute Erfahrung für ihre Tochter sei, weil sie im Kindergarten viel lernen kann und dort ihre Freunde hat.
Eine Frage des Geldes
Es geht aber nicht immer nur um die Frage der Selbstverwirklichung von berufstätigen Müttern. Manchen Familien bleibt schlichtweg keine Wahl. Das statistische Bundesamt gab im Mikrozensus 1996-2004 bekannt, dass mittlerweile 20 Prozent aller Familien alleinerziehende Mütter oder Väter mit Kindern sind. Das traditionelle Familienbild eines Ehepaars mit Kindern befindet sich auf dem Rückzug. 2004 entsprachen nur noch 74 Prozent der Familien in Deutschland dieser traditionellen Familienform. Immer häufiger sind Familien auf Kindertagesstätten angewiesen, ob es sich dabei um alleinerziehende Eltern oder einen Doppelverdienerhaushalt handelt. Einige Eltern würden ohne Kindertagesstätten kaum genug Geld verdienen, um das für ihre Familie Notwendige zu kaufen.
„Im Interesse der Kinder“ bedeutet für andere die Gelegenheit, ihr Kind tagsüber im Kindergarten unterzubringen, um mehr Geld verdienen zu können. Damit meint man die Möglichkeit, ein Eigenheim, die neuesten technischen Spielzeuge, modische Kleidung, ein teureres Auto oder auch Urlaub im Ausland bezahlen zu können.
Die Unterbringung der Kinder in Kindertagesstätten ist mittlerweile in der westlichen Gesellschaft zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden, der sich nicht mehr verleugnen lässt.
Zunehmender Erziehungsnotstand
Politiker möchten aber mit dem Ausbau der Krippenplätze nicht nur dafür sorgen, dass Mütter entscheiden können, ob sie ihr Kind in einer Kindertagesstätte betreuen lassen. Immer lauter wird auch der Ruf, dem augenscheinlichen Erziehungsnotstand in Deutschland entgegenzuwirken.
Fakt ist, dass Kindergärten und Schulen immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, für die eigentlich die Eltern zuständig sind. Seit Ende 2004, mit Beginn der Hartz IV-Reform, hat sich die Anzahl der in Armut lebenden Kinder in Deutschland verdoppelt. Jedes zehnte Kind in Nordrhein-Westfalen ist Teil einer Familie, die von geringen finanziellen Leistungen lebt, früher Sozialhilfe genannt.
Eine Kindergärtnerin, die schon seit 30 Jahren in einem Kindergarten in einer gutbürgerlichen Nachbarschaft in Niederkassel bei Bonn arbeitet, berichtet: „Früher hat es bei uns die eine oder andere Familie gegeben, die Unterstützung brauchte. Aber dies war eher die Ausnahme und häufig konnte dieser Familie schon durch nachbarschaftliche Hilfe geholfen werden.
Heute brauchen immer mehr Familien Hilfe. Einen großen Teil meiner Arbeitszeit verbringe ich damit, mich mit verschiedenen Ämtern auseinanderzusetzen, damit wenigstens die Grundversorgung für diese Kinder gewährleistet wird. Manche Kinder kommen ohne Frühstück in den Kindergarten. Deshalb haben wir ein gemeinschaftliches Frühstück eingeführt.
Wir bemerken auch häufiger, dass Kinder zu Hause sich selbst überlassen sind und nicht richtig betreut werden. Keiner kümmert sich darum, was sie essen, was sie tun, wo sie sind. In solchen Fällen versuche ich dafür zu sorgen, dass diese Kinder in eine Ganztagsbetreuung kommen, damit sie wenigstens tagsüber einen regelmäßigen Ablauf erfahren.“
Christa Burghardt, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in Hagen, hat diesbezüglich bereits diverse Erfahrungen sammeln können: „Oft gehen Kinder ohne Frühstück in die Schule und kommen nachmittags um drei ohne Mittagessen zur Hausaufgabenbetreuung. Es fehlt ein geregelter Tagesablauf mit gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie. Die Kinder erfahren keine oder unzureichende Förderung durch die Eltern. Fatal wird es, wenn diese in ihrer Vorbildfunktion versagen, indem sie morgens einfach im Bett liegen bleiben.“
In Deutschland herrscht zunehmend ein Erziehungsnotstand. Seit vielen Jahren führt Professor Klaus Hurrelmann die „Shell Jugendstudie“ durch, die umfassendste Untersuchung der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Er stellt fest: „Wenn man alles zusammenfasst, gibt es keinen Zweifel: Ein gutes Drittel der Eltern in Deutschland sind mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Und ihr Anteil wächst“ (Walter Wüllenweber, „Gefährlichste Kinderkrankheit: Eltern“, www.stern.de, 22. Februar 2007).
Die Zeitschrift Stern fragt ihre Leser deshalb: „Was bedeutet es, wenn Eltern überfordert sind und ihr Kind in der entscheidenden Entwicklungsphase vor der Schule nicht richtig fördern?“
Die Lösung dafür, dass Eltern ihrer Verantwortung in der Kindererziehung nicht gerecht werden, sieht der Autor in dem Ausbau der Kindertagesstätten: „Wer z. B. zu Schulbeginn nicht richtig sprechen kann, wird kaum dem Unterricht folgen können, hat nur eine winzige Chance, die Schule erfolgreich abzuschließen, wird nur mit Lotto-Glück einen Beruf erlernen können . . . Nicht richtig sprechen zu können, ist für Kinder die Höchststrafe. Urteil: lebenslänglich . . .
Kein Land kann es sich leisten, die Entwicklungschancen von einem Drittel seiner Kinder nicht zu fördern – weder moralisch noch ökonomisch. Die effizienteste Methode, Kindern zu helfen, ist der Kindergarten, denn in den ersten Lebensjahren wird die Basis für den Spracherwerb und für die gesamte Lernfähigkeit eines Menschen gelegt“ (ebenda).
Neue NICHD-Studie
Bisher gab es nur wenige Langzeitstudien über Krippenbetreuung. Deshalb dürfte das Ergebnis einer amerikanischen Langzeitstudie zur Kinderbetreuung für neuen Zündstoff in der Kita-Debatte sorgen. Die zwei Millionen Dollar teure Untersuchung trägt den Titel: „Gibt es langfristige Auswirkungen der frühen Kinderbetreuung?“
Finanziert wurde die Studie vom „National Institute of Child Health and Human Development“ (NICHD). Sie gilt als die größte, umfassendste und am längsten angelegte Untersuchung zur Kinderbetreuung in den USA. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk bewertete der Betreuungsforscher und Diplompädagoge Burghardt Behncke die NICHD-Studie als „große und international anerkannte Studie“, an der niemand vorbeikomme.
Nach den neuesten Ergebnissen der NICHD-Studie, die im März 2007 im Fachblatt „Child Development“ veröffentlicht wurde, entwickeln sich Kinder, die schon früh in Kindertagesstätten aufwachsen, in der Schule später eher zu Störenfrieden und Unruhestiftern als Kinder, die zu Hause von Eltern oder Tagesmüttern betreut werden. Die Qualität der Kindertagesstätte ist dabei unerheblich.
Mit jedem Jahr, das ein Kind mindestens zehn Stunden pro Woche in einer Kita verbracht hat, steigt dessen Aufsässigkeit in der Schulzeit um rund ein Prozent. Gegenüber dem Deutschlandfunk meinte Behncke: „Je früher ein Kind in Fremdbetreuung kommt und je länger es wöchentlich und über die Jahre fremd betreut wird, umso mehr Verhaltensauffälligkeiten können solche Kinder zeigen.“
Für die Schule vorbereitet, aber nicht fürs Leben
Die Journalistin Kathleen Parker, deren familienorientierte Rubrik in der Washington Post in zahlreichen amerikanischen Zeitungen nachgedruckt wird, sieht in dem NICHD-Bericht einen Hinweis darauf, „dass wir eine Generation von Kindern erziehen, die für die Schule, aber nicht für die Gesellschaft vorbereitet wird“ (alle Hervorhebungen durch uns). Das ist ein ernüchternder Gedanke!
Vielleicht ist es angebracht, dass wir uns wieder an die Hauptaufgabe bei der Kindererziehung erinnern – nämlich die Kinder auf das Leben vorzubereiten. Es geht nicht allein darum, sie auf eine akademische oder sportliche Karriere vorzubereiten oder ihnen „die Gelegenheiten zu bieten, die ich nie hatte“.
Fehlende Bindung
In Bezug auf die Diskussion um mehr Krippenplätze warnt Diplompädagoge Behncke vor einer Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Bindung: Je früher und je länger eine Fremdbetreuung vorhanden sei, umso mehr könne eine Mutter-Kind-Beziehung in den ersten drei Jahren leiden.
Dieselbe Meinung vertritt Mary Mostert von der amerikanischen Organisation „Banner of Liberty“. Sie berichtete über eine andere Studie, die von der US-amerikanischen Regierung in Auftrag gegeben wurde und die Kinder vom ersten Monat ihres Lebens bis zum ersten Schuljahr beobachtete. Fazit der Studie: Kinder, die überwiegend in Kindertagesstätten betreut wurden, zeigten die gleiche Bindung an ihre Mutter wie Kinder, die von den eigenen Müttern betreut wurden. Allerdings „zeigten die Mütter weniger Bindung an ihre Kinder, wenn sie sie mehrere Stunden im Kindergarten gelassen hatten“ („National Institute on Child Health Says Over 30 Hours [a] Week in Child Care Makes Aggressive Children“, www.reagan.com).
Zum Schluss ihrer Analyse der NICHD-Studie stellte Mostert eine unbequeme Frage: „Wird das aggressive Verhalten durch die Unterbringung in Kindertagesstätten verursacht oder durch die Mütter, die eine geringere Bindung zeigen, wenn sie ihre Kinder nach einigen Stunden im Kindergarten wieder abholen?“
Die Tochter von Frau Mostert, Gail Lyons, ist Diplompädagogin im Fachgebiet „frühkindliche Entwicklung“ und hat selbst vier Kinder. In den letzten 20 Jahren unterrichtete sie Drei- und Vierjährige im Kindergarten der Elite-Universität Princeton. Gail Lyons hat in den 20 Jahren ihrer Berufstätigkeit festgestellt, dass das Problem der Aggressivität normalerweise durch eine instabile Elternbindung entsteht.
Sie fügt hinzu: „Entweder verwöhnen Eltern ihre Kleinkinder, weil sie sich schuldig fühlen, sie den ganzen Tag alleingelassen zu haben [in der Kindertagesstätte oder bei einer Tagesmutter] oder sie verwöhnen sie, weil sie sich damit die Loyalität ihres Kindes erkaufen wollen. Sie meinen die Kinder würden sie eher ,mögen‘, wenn sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Sie wollen die sogenannte ,Qualitätszeit‘, die sie für ihre Kinder reservieren, nicht damit ,verschwenden‘, dass sie etwas sagen, was sie in den Augen ihrer Kinder als ,Spaßverderber‘ oder ,böse‘ erscheinen lässt“ (ebenda).
Gail Lyons fährt fort: „Eltern bringen ihren Kindern heute nicht mehr bei, dass es nicht erlaubt ist, andere Kinder zu schlagen und zu beißen und dass man Lehrern und Kindergärtnerinnen nicht trotzen soll . . . Viele Eltern bemühen sich nicht mehr, ihren Kindern beizubringen, Autorität zu respektieren – nicht einmal ihre eigene Autorität“ (ebenda).
Susanne Gaschke, die sich als Journalistin dem Gebiet der Kinderpädagogik widmet, pflichtet Gail Lyons bei: „Was sich bei uns beobachten lässt, was aus einigen Zahlen amtlicher Statistiken, mehr noch aus besorgten Berichten von Lehrern, Erziehern und Kinderärzten spricht, sind Hinweise auf eine Art von seelischer Verwahrlosung, von Abstumpfung, Grobheit und Unempfindlichkeit. Und zwar sowohl bei einer wachsenden Zahl von Kindern, die heute erzogen werden, als auch bei den Eltern, die sie erziehen. Oder nicht erziehen, weil sie dies nicht mehr für ihre persönliche, sondern für eine Aufgabe des Staates halten“ („Die Erziehungskatastrophe: Kinder brauchen starke Eltern“, DVA, Stuttgart / München, 2001, Seite 10).
Es scheint, dass immer mehr Eltern sich mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert fühlen. Ist die Lösung dafür aber in besser ausgebildeten Erzieherinnen, kleineren Kindergruppen und besser ausgestatteten Kindergärten zu suchen? Die NICHD-Studie bestreitet, dass bessere Unterkünfte und qualifizierteres Personal sich auf das aggressive Verhalten von Kindern positiv auswirken. Kinder, die von gut geführten Kindertagesstätten betreut werden, zeigten genauso ein aggressives Verhalten wie Kinder aus ärmeren Gegenden.
Dieselben Ergebnisse gelten sowohl für Jungen als auch Mädchen, für Kinder aus besser gestellten Haushalten als auch Kinder aus sozialschwachen Familien.
Gesucht werden Eltern
Ebenso wie Behncke und Mostert glaubt auch Richard Bowlby, Präsident des amerikanischen „Centre of Child Mental Health“, dass Erzieherinnen keine sicheren Bezugspersonen für Kinder sein können und dass die außerhäusliche Betreuung auf sehr wenige Stunden am Tag begrenzt sein muss. Seine Ansicht wird von den Wissenschaftlern der NICHD-Studie unterstützt.
Zum Schluss der NICHD-Studie heißt es, dass die elterliche Erziehung den größten Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat, was kognitive sowie soziale Fähigkeiten betrifft – und zwar mehr noch als die außerhäusliche Qualität der Kindertagespflege. Hochwertige elterliche Erziehung wirke sich positiv aufs Lesen, Schreiben und Rechnen aus, führe zu weniger Lehrer-Schüler-Konflikten und erzeuge ein positives Sozial- und Arbeitsverhalten.
Der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld bedauert deshalb die gegenwärtige Entwicklung in der Kindererziehung. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt warnte er Eltern davor, die Kleinsten in die Kinderkrippe zu schicken. Zu frühe Selbstständigkeit schadet der Entwicklung von Kindern. Der Psychologe rät allen Eltern, die enge Beziehung zu ihren Kindern möglichst lange aufrechtzuerhalten.
„Ich habe den Eindruck, dass den Europäern nicht genügend bewusst ist, worin ihr eigentlicher Reichtum besteht, und dass sie anfangen, ihre Kultur und ihre Traditionen der Verheißung wirtschaftlichen Wohlstands zu opfern. Wenn Materialismus in der Kultur überhandnimmt, geht die intuitive Bindungsweisheit verloren … Früher haben Kultur, Gesellschaft und Tradition die Kinder in der richtigen Beziehung zu ihren Eltern gehalten. Die Eltern von heute werden im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die sich ganz auf das Geldverdienen konzentriert . . . Kinder brauchen die intensive Bindungsbeziehung zu ihren Eltern.
Die Entwicklung von Bindungen braucht Zeit. In den ersten Lebensjahren bindet sich das Kind, indem es mit den Eltern zusammen ist und ihnen gleicht. Danach erlebt das Kind Nähe, indem es dazugehört und Anerkennung erhält. Nur unter den geeigneten Bedingungen entwickelt sich emotionale und seelische Nähe. Kinder brauchen mindestens fünf Jahre, um so tiefe Bindungen zu entwickeln, dass diese als Grundlage für eine Erziehung dienen können und so stabil sind, dass die Bindung auch bei physischer Trennung erhalten bleibt. Wer diesen Prozess stört, schlachtet die Gans, die die goldenen Eier legt“ („Psychologie: Warum sich Zehnjährige umbringen“, Die Welt, 10. Februar 2007).
Anna Wahlgren, neunfache Mutter und schwedische Bestsellerautorin pädagogischer Literatur, hat eine ähnliche Meinung wie Neufeld zur frühen Fremdbetreuung in Kinderkrippen. Sie lehnt Kinderkrippen ab und plädiert für feste Tageszeiten fürs Essen, Schlafen und Spielen sowie klare Regeln.
In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung warnt sie davor, dem Beispiel Schwedens, wo Kinder schon nach dem ersten Lebensjahr ganztags betreut werden, zu folgen. „In Schweden ist es leichter, sein Kind loszuwerden . . . Der schwedische Wohlfahrtsstaat taugt nicht als Model, denn Kinder und Alte werden beiseite geschoben – und es geht ihnen schlecht dabei . . . Schwedische Kinder sind in den vergangenen Jahren nicht sehr glücklich gewesen. Sie verlieren ihr Zuhause und ihre Familien viel zu früh . . . Depressionen, Alkohol- und Drogenprobleme unter Jugendlichen nehmen zu. Ein großer Teil der Heranwachsenden sagt: ,Wir haben absolut niemanden, mit dem wir sprechen können.‘ “ („Rettet wenigstens die ersten drei Jahre!“, 17. Oktober 2006).
Interessanterweise beklagen laut einer UNICEF-Studie vom Oktober 2006 auch mehr als die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland, dass ihre Eltern keine Zeit für sie haben. Nur 40 Prozent dieser Altersklasse gaben an, dass sich ihre Eltern mehrmals in der Woche einfach nur mit ihnen unterhalten! Das Statistische Bundesamt hat ermittelt, dass Eltern für wichtige Gespräche mit ihren Kindern täglich nur sieben bis acht Minuten aufbringen.
In der Bibel wird die Hoffnung ausgedrückt, dass Eltern ihre Kinder auf das Leben vorbereiten und sie zu erfolgreichen Menschen erziehen: „. . . auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest“ (Epheser 6,3). Daran ist allerdings die Bedingung geknüpft, dass Kinder ihren Eltern gehorchen und sie ehren (Verse 1-2).
„Gehorchen“ bedeutet, aufmerksam zuzuhören und sich der Autorität unterzuordnen. „Ehren“ bedeutet, den Eltern eine große Wertschätzung entgegenzubringen. Können diese Voraussetzungen zu einem guten, erfolgreichen Leben erzielt werden, wenn das Kind in seinen ersten Lebensjahren den größten Teil seiner wachen Stunden mit anderen Personen verbringt als mit seinen eigenen Eltern? Die biblischen Anweisungen setzen voraus, dass Eltern eine enge Beziehung zu ihren Kindern haben. Diese kann nur entstehen, wenn ein Kind viel Zeit mit seinen Eltern verbringen kann, besonders mit seiner Mutter.
Gibt es eine Schriftstelle, die dies schöner ausdrückt als 5. Mose 6, Vers 7? „Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.“ Hier wird gezeigt, wie man Kinder erziehen soll – indem man mit ihnen spricht, wenn sich entsprechende Situationen ergeben. Diese Situationen kann man nicht planen, sondern sie ergeben sich spontan im Laufe des Tages. Wie viele Mütter verpassen die Gelegenheit, ihr Kind zur rechten Zeit liebevoll zu unterweisen, weil sie zur gegebenen Situation nicht anwesend sind? Es ist kaum vorstellbar, dass eine Erzieherin, die für mehrere Kinder zuständig ist, auf gleiche Weise wie eine Mutter auf das Kind eingehen kann. Anna Wahlgren berichtet über schwedische Kinderkrippen: „Mittlerweile gibt es Kinderkrippen, in denen zwei Erzieherinnen für zwanzig Einjährige zuständig sind. Das muss man sich mal vorstellen! Manche Kinder können noch nicht selber essen, fast alle tragen Windeln. Das geht allein schon praktisch nicht, von der emotionalen Seite ganz zu schweigen“ (ebenda).
Die Bibel weist junge Mütter an, sich liebevoll um ihre Kinder zu kümmern (Titus 2,4). Die Weisheit der Sprüche warnt davor, die Erziehung zu vernachlässigen und ein Kind sich selbst zu überlassen, da es seiner Mutter Unglück bringen wird (Sprüche 29,15). Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas drückte die in den Sprüchen niedergeschriebene Weisheit ähnlich aus: „Zeit aber steht für Liebe. Der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe. Die Gewalt ist rasch.“
Die Zeitschrift Gute Nachrichten will ihren Lesern keine Schuldgefühle vermitteln. Stattdessen möchte sie zum Nachdenken anregen. Wir haben in der Erziehung die Aufgabe, Menschen auf eine Zukunft vorzubereiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Deshalb sind christliche Werte und Prinzipien, die wir unseren Kindern im Elternhaus täglich vermitteln, ein solides Fundament, mit dem sie auf ein erfolgreiches Leben vorbereitet werden. Wie viel Zeit schenken wir unseren Kindern?
Dies ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage des Herzens.