Die Heilung eines blind geborenen Mannes birgt wichtige Lektionen in Bezug auf Jesu Christi Aufforderung an uns: „Folgt mir nach!“
Von Robin Webber
Zum Schluss des Herbstfestes in Jerusalem, an einem besonderen Sabbat, war die Straße belebt mit den vielen Festbesuchern. Dort war ein Mann, der blind geboren war und deshalb die Geräusche in seinem Umfeld auf eine Weise wahrnahm, wie es sehende Menschen nicht erleben. Sein feines Gehör war der Ersatz für das fehlende Sehvermögen.
So hörte er das Herannahen einer Gruppe von Jüngern, die ihren Lehrer begleiteten. Er ahnte nicht, dass sich sein Leben in den nächsten Minuten auf nachhaltige Weise verändern sollte.
Die Werke Gottes sollten offenbar werden
Im Johannesevangelium berichtet Johannes über das Geschehen: „Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war“ (Johannes 9,1). Dieser Umstand diente Jesus zur Erteilung einer wichtigen Lektion.
Jesu Jünger fragten ihn: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ (Vers 2). Damals ging man davon aus, dass eine solche Behinderung als Fluch auf Sünden zurückzuführen war.
Jesus sah das jedoch anders: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ Ja, Jesus wusste genau, was er mit diesem Blinden vorhatte, um Gott zu verherrlichen. Dann „spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden“.
Jesus wies den Blinden an, sich am Teich Siloah (südlich des Tempels) zu waschen. Jesus gab den Menschen, mit denen er arbeitete, anfangs oft eine Aufgabe, nachdem er das getan hatte, wozu nur er in der Lage war. Dieses Muster erkennen wir auch in diesem Fall. Der Blinde wusch sich, wie von Jesus Christus angewiesen, und kam sehend wieder.
Wie war das nur möglich?
Die Nachbarn des Blinden konnten das Wunder nicht fassen. „Ist das der Bettler?“ fragten sie. Einige meinten ja, doch andere sagten: „Er hat Ähnlichkeit mit ihm.“ Schließlich sagte er selbst: „Ich bin es!“
Sie wollten wissen, was passiert war. „Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend“ (Vers 11). Der vormals Blinde wusste, dass ein wunderbarer Mann ihn auf übernatürliche Weise geheilt hatte, und er erkannte das gebührend an.
Doch das war erst der Anfang einer Geschichte, die das Leben des vormals Blinden stark beeinflussen sollte. Die erstaunten Nachbarn brachten ihn zu den Pharisäern, damit auch sie davon erfuhren. Der Mann erzählte ihnen, was er erlebt hatte: „Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend“ (Vers 15).
Die Reaktion dieser religiösen Führer wird den Mann wohl schockiert haben. Sie schmähten die Heilung, weil sie am Sabbat stattgefunden hatte. Zur Zeit Jesu haben menschlich erdachte Vorschriften eine Verbesserung der Lage von Behinderten am Sabbat verboten. Nur die notwendige Minimalpflege war erlaubt.
Indem Jesus den Brei machte, verstieß er bewusst gegen die Vorschriften, die gute Werke am Sabbat erschwerten. Deshalb wollten die Pharisäer den Geheilten in einen symbolischen Schwitzkasten nehmen: „Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat?“ (Vers 17). Die Antwort lag dem Mann auf der Zunge: „Er ist ein Prophet.“ Die Pharisäer sahen die Dinge aber anders und stellten sogar die Blindheit des Mannes infrage.
Sie ließen die Eltern holen und wollten von ihnen wissen, wie ihr Sohn jetzt sehen konnte. Die Eltern erkannten, dass eine falsche Antwort Konsequenzen nach sich hätte ziehen können. Deshalb wichen sie der Frage aus: „Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden“ (Vers 21).
Früher war ich blind, jetzt sehe ich!
Die Pharisäer wandten sich wieder an den Geheilten, der jetzt ohne die Unterstützung seiner Eltern und Nachbarn war. Sie beschrieben Jesus als Sünder, einen gottfernen Menschen. Der vormals Blinde meinte dazu: „Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend“ (Vers 25).
Die Einschüchterungsversuche der Pharisäer fruchteten nicht. Der Geheilte blieb fest: „Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun“ (Vers 33). Was war die vorwurfsvolle Antwort der Pharisäer? „Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns?“
Johannes 9, Vers 34 berichtet vom Ende des Verhörs: „Und sie stießen ihn hinaus.“ In ihrer bigotten Überlegenheit sahen die Pharisäer ihn als Gefangenen der Sünde, dem keine Befreiung zu gönnen war. Sie meinten, Gott einen Gefallen zu tun, indem sie ihn aus der Synagoge ausstießen (vgl. dazu Vers 22). Ihn als Sünder und Lügner zu brandmarken war einfacher, als die (für sie) unbequeme Wahrheit einer Heilung zu akzeptieren.
An dieser Stelle vervollständigt sich das Werk, das Jesus im Leben dieses Mannes begonnen hatte. Andere haben ihm die Hilfe verweigert – seien es seine Angehörigen, Nachbarn oder die Gemeinschaft der Gläubigen –, doch Jesus Christus stand ihm bei.
Vergessen wir nicht, dass Christus nach der Heilung nicht mehr bei ihm war. Der Apostel Johannes sagt uns nun: „Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten“ (Johannes 9,35). Jesus blickte mit Erbarmen auf diesen Mann nicht nur in seiner Blindheit, sondern auch jetzt, als man ihn abgelehnt hatte. Jesus nahm sich der Isolation dieses Mannes an.
Einfache Wahrheiten und praktische Schritte
Auch Jesus stellt dem Mann eine Frage. Es ist dieselbe Frage, der sich jeder Berufene stellen muss: „Glaubst du an den Menschensohn?“ Johannes hält den Dialog fest: „Herr, wer ist’s?, dass ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s. Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an“ (Johannes 9,35-39). Wunderschön!
Die Geschichte von diesem blinden Mann veranschaulicht die wunderbare und realistische Reaktion auf Jesu Aufforderung „Folgt mir nach“. Die Aufforderung ist weder ätherisch noch mystisch, sondern orientiert sich an einfachen Wahrheiten und praktischen Schritten, die in diesem Beispiel ersichtlich werden.
Erinnern wir uns als Erstes daran, dass Gott, der Vater, und Jesus uns zuerst gesehen haben – in unserem geistlich blinden Zustand. Genauso wie es beim Blinden in Johannes 9 der Fall war, nahmen sie sich unser an.
Die Meinung anderer über uns interessiert Gott nicht. Was ihn bei den heute Berufenen interessiert, ist das, was Jesus für uns bei Golgotha vollbrachte (Johannes 6,44). Die Realität unserer Vergangenheit ist, dass wir alle Sünder waren, die mit unseren Sünden den Sold des Todes „verdient“ hatten (Römer 3,23; 6,23). Durch Jesus Christus kann Gott aber unser Los – sei es physisch, emotional oder geistlich – wenden, um ihn zu ehren, genauso wie es bei dem blinden Mann der Fall war.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass jeder von uns eine eigene Geschichte hat. Darin geht es darum, wie Gott in unserem Leben gewirkt hat. Unsere Geschichte ist wohl nicht so dramatisch wie die des blinden Mannes oder die des wütenden Saulus auf dem Weg nach Damaskus, doch wir haben unsere eigene Geschichte. Wir brauchen sie nicht auszuschmücken, sondern sollen einfach daran festhalten und uns daran erinnern.
Dreimal wurde die Erzählung des Blinden infrage gestellt, aber er blieb immer bei den einfachen Tatsachen. Er wiederholte, stets den Tatsachen getreu, wie Gott seine persönliche Finsternis aufgehellt hatte.
Wenn wir an dem treu festhalten, was Gott uns offenbart hat, werden wir in dem Bewusstsein wachsen, wer es ist, dem wir nachfolgen. Der Bericht in Johannes 9 handelt nicht nur von einer Heilung. Er zeigt uns, wie es ist, Gott auf einer neuen Ebene zu erleben. In Vers 11 nannte der Geheilte Jesus einen Menschen. Bei seinem Verhör steigerte er sich in seiner Bezeichnung, als er Jesus einen Propheten nannte. Zum Schluss der Erzählung in Vers 38 erkannte er Jesus als seinen Herrn an und betete ihn an.
Gottes Eingreifen in unser Leben, um uns zu berufen bzw. zu bekehren, ist nicht lediglich ein Ereignis. Es ist der Anfang eines wachsenden Bewusstseins über das Wesen, das mit uns arbeitet und uns seinem Sohn, dessen Nachfolger wir geworden sind, zur Betreuung anvertraut hat.
Das Ergebnis dieser Betreuung beschrieb Jesus in Johannes 6, Vers 39: „Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich’s auferwecke am Jüngsten Tage“ (Hervorhebung durch uns).
Vergessen wir auch nicht, dass Jesus die Lage des Mannes genau erkannt hat. Er sah, dass er blind war. Als Jesus sich dem Blinden näherte, konnte dieser nicht ahnen, was ihm bevorstand. Gott, der Vater, und sein Sohn Jesus Christus greifen oft in unser Leben ein, wenn wir es nicht erwarten. Sie setzen ihre Arbeit mit uns auf ihre perfekte Weise und mit ihrem perfekten Timing fort, um uns an das große Ziel zu führen (Philipper 1,3-6).
Gottes Eingreifen bedeutet aber nicht, dass wir immer gleich alles verstehen, was er für uns tut bzw. wozu er uns auffordert. Was hat der Blinde sich wohl gedacht, als Jesus mit seiner Spucke einen Brei aus Erde machte und ihm diesen Brei auf die Augen schmierte? Was hat er sich als Resultat vorgestellt, als Jesus ihm sagte, er sollte sich im Teich Siloah waschen? War ihm bewusst, was ihm unmittelbar bevorstand?
Wenn wir das Wort Gottes lesen, finden wir manchen symbolischen Teich Siloah. Wenn Gott uns in seinem Wort zu etwas auffordert, tun wir es! Überlassen wir ihm die Konsequenzen.
Eine einfache Frage beantworten
Eine letzte Lektion, die wir durch die Heilung des Blinden lernen, ist, dass die Nachfolge Jesu Christi mit Einsamkeit verknüpft sein kann. Außer Jesus stand niemand dem Geheilten bei. Wenn Gott anfängt, uns durch seinen Geist zu führen (Römer 8,14), sollen wir nicht meinen, dass alle Angehörigen, Freunde und Bekannten begeistert sein werden. Das werden sie nicht sein.
Der gute Hirte, dem wir nachfolgen, weiß aber, wo jedes Schaf in seiner Herde ist! Wir beten einen Gott an, der in anderen Religionen unbekannt ist. Er ist der wahre Hirte, der seine Herde liebt und sich fürsorglich um uns bemüht. Der Geist Gottes führt uns nie dorthin, wo uns seine Gnade nicht mehr zugänglich ist.
Bei unserem Wandel auf dem Weg, zu dem uns unser himmlischer Vater berufen hat, sollen wir stets darauf vorbereitet sein, die einfache Frage zu beantworten, die Jesus dem Geheilten gestellt hat: „Glaubst du an den Menschensohn?“ Unsere Antwort auf diese Frage wird man an unseren Taten erkennen.
Vor fast 100 Jahren sprach die bemerkenswerte blinde Autorin Helen Keller eine bewegende Wahrheit aus, als sie gefragt wurde, was die größte Tragödie im Leben wäre. „Augen zu haben und nicht sehen zu können“, lautete ihre Antwort. Die Geschichte des blind geborenen Mannes in Johannes 9 öffnet unsere Augen, damit wir die Aufforderung Jesu Christi besser verstehen können: „Folgt mir nach!“