Als Gast bei einem Essen im Haus eines Pharisäers ließ sich Jesus die Füße von einer Frau mit zweifelhaftem Ruf waschen. Sein Gastgeber entsetzte sich. Doch Jesus hatte ihm – und uns – etwas zu sagen.
Von Robin Webber
Will man der Aufforderung Jesu „Folgt mir nach!“ gehorchen, ist es wichtig, dass man geistlich darin wächst, die Menschen so zu sehen, wie Jesus Christus sie sieht. Dabei geht es um mehr als nur darum, dass man die Menschen mit dem physischen Auge wahrnimmt. Es geht darum, dass wir sie mit der Linse unseres Herzens erkennen, so wie Jesus das tat.
Bilden wir uns nicht oft über jemanden aufgrund eines ersten Eindrucks ein Urteil, das dann der betroffenen Person lange anhängt? Oder kommt es nicht auch vor, dass wir jemanden nach dessen äußerem Erscheinungsbild beurteilen, ohne zu wissen, was sich in seinem Herzen wirklich abspielt?
Christus wusste, dass wir Menschen oft zu falschen Urteilen neigen, die auf dem Äußeren beruhen. Bei einem Essen, an dem er als Gast in Kapernaum teilnahm, erteilte er seinem Gastgeber diesbezüglich – und auch uns – eine wichtige Lektion.
Das Essen des Gastgebers wird unterbrochen
Der Pharisäer Simon lud Jesus zu sich nach Hause zu einem Essen ein (Lukas 7,36). Jesus hatte vorher in Samarien und Galiläa gepredigt und dort Wunder gewirkt. Dazu gehörte auch die Auferweckung eines Toten aus dem benachbarten Dorf Nain (Lukas 7,11-17). Jesu Ruf ging ihm also voraus.
Über ihn wurde z. B. berichtet, dass er gern mit Sündern und Zöllnern aß (Verse 33-34), was für manche ein Widerspruch zu seinem sonstigen Verhalten zu sein schien. Jesus von Nazareth war kein „ durchschnittlicher Rabbiner“.
Damals war es üblich, dass man einen Rabbiner zu einem Hausbesuch einlud. Oft kamen dann diejenigen mit ins Haus, die dem Lehrer gerade zugehört hatten. Vielleicht lud Simon Jesus ein, weil er wissen wollte, wie Jesus wirklich war. Die Bibel nennt uns nicht den Grund für seine Einladung. Sie hält aber fest, dass Simon seinem Gast Jesus nicht die übliche Höflichkeit erwies, was möglicherweise ein Hinweis auf eine negative Haltung ihm gegenüber war.
Simon, Jesus und die anderen Gäste aßen und unterhielten sich, wie es dem damaligen Brauch entsprach. Sie stützten sich seitlich auf kleinen Sofas, die man u-förmig um den Tisch gestellt hatte. Plötzlich wurden das Essen und die Unterhaltung durch eine weibliche Person unterbrochen, die anscheinend keine Einladung erhalten hatte. Sie war eine Sünderin, und in modernen Übersetzungen wird sie als Prostituierte identifiziert (Lukas 7,37; Gute Nachricht Bibel).
Wir können uns die Reaktion der Gäste auf diesen Eindringling vorstellen: Für wen hielt sie sich denn überhaupt? Sie interessierte sich jedoch nicht für die Gesellschaft, sondern nur für eine Person: Jesus von Nazareth. In ihren Gedanken war es unbedingt erforderlich, dass sie Zutritt zu ihm bekam.
Eine schockierende Handlung
Alle Augen waren nun auf die Frau gerichtet. Man fragte sich, was sie vorhatte. Man konnte sehen, dass sie eine kleine Alabasterflasche in der Hand hielt. Damit kniete sie vor Jesus nieder und fing an zu weinen, wobei ihre Tränen auf seine Füße fielen.
Dann tat sie etwas, was für eine erwachsene Frau in der jüdischen Kultur jener Zeit undenkbar war. Mit ihren Haaren fing sie an, Jesu Füße zu trocknen, und dann küsste sie seine Füße – sozusagen ein hautnaher Ausdruck der Ehrerbietung. Danach salbte sie seine Füße mit dem wohlriechenden Salböl aus ihrer Alabasterflasche.
Lukas beschreibt das Geschehen wie folgt: „Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl“ (Lukas 7,37-38).
Für die Sünderin spielte es keine Rolle, wer von den Anwesenden wusste, was sie war. Ihr war allein wichtig, dass sie sich vor Jesus demütigen konnte, und sie ließ nicht zu, dass sie daran gehindert wurde. Ihre Haltung vor dem Mann, den als sie ihren Meister anerkannte, zeugte von geistlicher Selbstaufopferung.
Doch Jesu Gastgeber, Simon der Pharisäer, entsetzte sich. Wie konnte sich diese Frau, deren sündhaftes Verhalten sie unnahbar machte, die Kühnheit anmaßen, seine Gäste durch ihre Präsenz zu belästigen und deren Essen zu unterbrechen?
Wie so viele Leute, die sich für gerecht halten, hatte Simon seine eigenen Vorstellungen darüber, wie sich ein wahrer Diener Gottes zu verhalten hatte. Demnach hätte sich Jesus nicht von der Frau berühren lassen dürfen: „Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin“ (Lukas 7,39).
Seine Meinung war typisch für die Pharisäer im Allgemeinen, denn die Bezeichnung Pharisäer bedeutete „die Abgesonderten“. Das waren sie in der jüdischen Gesellschaft des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung.
Jesus wendet sich an seinen Gastgeber
Jesus war mit der Mentalität der Pharisäer vertraut. So wandte er sich an seinen Gastgeber und sprach ihn mit Namen an: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen“ (Lukas 7,40). Man kann sich vorstellen, wie Simon und seine Gäste reagierten, als Jesus seinen Blick auf Simon richtete, um ihm etwas zu sagen.
Um Simon eine wichtige Lektion zu erteilen, benutzte Jesus das Beispiel von zwei Schuldnern, deren Schulden unterschiedlich groß waren: „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?“ (Verse 41-42).
Simon antwortete, wie wohl jeder vernünftige Mensch geantwortet hätte: „Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.“ Das war die Antwort, die Jesus erwartete: „Du hast recht geurteilt“ (Vers 43).
Das für jedermann Offensichtliche an dem Beispiel Jesu konnte Simon aber nicht in Bezug auf die Frau erkennen, die Jesus die Füße gewaschen hatte. Deshalb hakte Jesus nach: „Siehst du diese Frau?“
Jesus stellte das Verhalten Simons der Haltung der Frau gegenüber. Als Gastgeber hatte Simon Jesus nicht einmal die übliche Höflichkeit erwiesen, die man jedem Gast erwies, der auf den staubigen Straßen Galiläas gegangen war:
„Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt“ (Lukas 7,44-46).
All das, was Simon als Gastgeber hätte tun sollen, hatte die Frau getan. Deshalb sagte Jesus dem Simon: „Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“ (Vers 47).
Der Sünderin sagte Jesus: „Dir sind deine Sünden vergeben“ (Vers 48).
Simon und seine Gäste wunderten sich über Jesu Feststellung gegenüber der Frau: „Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?“ (Vers 49). Auf ihre Frage gab es nur eine mögliche Erklärung, die man entweder akzeptieren oder aber ablehnen konnte: Jesus war Gott in Menschengestalt. Er war der prophezeite Immanuel, ein Name, der „Gott mit uns“ bedeutet (Matthäus 1,23). Zum Schluss sagte Jesus der Frau: „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ (Lukas 7,50).
Überlegen wir kurz, was Simon und seine Gäste gesehen hatten: Jesus betrat das Haus. Er aß mit den Gästen und beteiligte sich an der Unterhaltung. Die als Sünderin bekannte Frau trocknete Jesu Füße mit ihren Haaren. Simon zeigte sein Missfallen, als er das Geschehen beobachtete. Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich, als Jesus ihr sagte, dass ihre Sünden vergeben waren.
Stimmt unsere Selbsteinschätzung?
Worauf will Jesus uns mittels dieser Geschichte hinweisen? Er will uns zeigen, dass wir uns selbst nur dann in realistischer Weise erkennen können, wenn wir das erlösende Werk unseres himmlischen Vaters, das er durch seinen Sohn verwirklicht, voll erfassen.
In den Sprüchen Salomos lesen wir: „Manchem scheint ein Weg recht; aber zuletzt bringt er ihn zum Tode“ (Sprüche 14,12; 16,25). Es ist tragisch, dass sich dieser Spruch auch auf solche Leute beziehen lässt, die davon überzeugt sind, den Willen Gottes zu verstehen und zu tun, wenn das Gegenteil in Wirklichkeit zutrifft.
Unsere menschliche Natur will die Wahrhaftigkeit der Feststellung des Apostels Paulus nicht wahrhaben, als er seinen – manchmal erfolglosen – Kampf gegen die Sünde beschrieb: „Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“ (Römer 7,18).
Der ehemalige Pharisäer Paulus (vgl. dazu Philipper 3,5) konnte das mit Gottes Hilfe erkennen, der aktive Pharisäer Simon hingegen nicht. Es kann also sein, dass wir durch unsere trügerische Selbsteinschätzung und unsere Sicht anderer Leute die Haltung ausstrahlen, dass Gottes Sohn für alle anderen Menschen gestorben ist, aber nicht für uns. Wir ähneln Simon, wenn wir meinen, gerecht zu sein und deshalb keiner Vergebung bedürfen.
Wir benötigen sie sehr wohl! Die Realität der Nachfolge Jesu ist, dass Gott seinen Sohn in die Welt sandte, nicht um gute Menschen besser zu machen, sondern um geistlich Tote vor dem ewigen Tod zu bewahren (Johannes 3,16-17; Römer 6,23).
Die Sünderin, die Jesus die Füße wusch, wusste in ihrem Herzen genau, was sie war. Sie wusste, was sie brauchte – Vergebung für ihre Sünden –, und sie drückte ihre Dankbarkeit gegenüber Jesus so gut aus, wie sie es nur konnte. Das Herz von Simon dem Pharisäer war hingegen verschlossen. Er schätzte die Sünderin falsch ein, aber auch sich selbst!
Jesus kam, um die Sünder zu rufen
Dem Evangelisten Lukas war das Thema Sündenvergebung anscheinend sehr wichtig. Zusätzlich zum Beispiel der Sünderin hielt er auch Jesu Gleichnisse in Kapitel 15 fest, die Gottes Freude über den reumütigen Sünder beschreiben. Und in Lukas 19, Vers 10 sagte Jesus: „Der Menschensohn [Jesus] ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.“
Interessant ist, dass Lukas viel über Heiden, Frauen, Aussätzige und andere berichtet, die von denen diskriminiert wurden, die sich für gerecht hielten. Jesu Umgang mit der Sünderin erinnert an die englische Redewendung, wonach man ein Buch nicht nach dessen Einband, sondern nach dessen Inhalt beurteilen soll.
Ist unsere Selbsteinschätzung hinsichtlich unserer Beziehung zu Gott realistisch? Dazu stellen wir zum Schluss drei Fragen:
1. Beeinflusst die Meinung anderer darüber, was vor Gott gerecht ist, unseren Dienst für Gott?
2. Schaffen unsere eigenen Gedanken in bisher unerkannter Weise einen Abstand zwischen uns und Gott?
3. Durch wessen Augen neigen wir dazu, unsere Mitmenschen zu beurteilen – durch die Augen von Simon dem Pharisäer oder durch Jesu Augen?
Wie hätte unsere Antwort auf Jesu Frage gelautet: „Siehst du diese Frau?“