Das Bild, das durch den kürzesten Vers der Bibel gezeichnet wird – „Jesus weinte“ (Johannes 11,35; Zürcher Bibel) –, spricht Bände über Gottes Liebe und Mitgefühl für die Menschen, die er erschaffen hat.
Von Robin Webber
Der biblische Bericht wurde uns schriftlich gegeben. Oft werden uns beim Lesen des Textes kraftvolle Bilder vermittelt. Es gibt zahlreiche Bilder dieser Art in den Evangelien des Neuen Testaments, in denen für uns das irdische Wirken Jesu Christi anschaulich festgehalten wurde. Jesus, der vom Vater gekommen war, war selbst auch Gott (Johannes 1,1-3. 14; Matthäus 1,23) und lebte als Mensch unter seinen Landsleuten.
So stelle ich mir eine Momentaufnahme des zwölf Jahre jungen Jesus im Jerusalemer Tempel unter betagten Lehrern vor, die alle mit weit geöffneten Mündern über sein Verständnis der Heiligen Schrift staunen. Ich sehe Jesus mit den Gästen einer Hochzeitsgesellschaft in Kana lachen. Ich sehe ihn mit zum Himmel ausgestreckten Armen, die Fische und Brote vor Tausenden von Menschen segnen.
Ich habe das Bild eines eifrigen Jesus mit rechtschaffenem Zorn in den Augen, der die Tische der Händler im Tempelbereich nicht nur ein-, sondern zweimal umstürzt. Ich muss innerlich schmunzeln beim Gedanken an Jesus, der auf einen pudelnassen Petrus herabblickt, weil diesem beim Wassergang Zweifel kamen und er dann gesunken war, und Jesus ihn deshalb ins Boot ziehen musste.
Nur zwei Wörter sprechen Bände
Aber das Bild, das ich in diesem Beitrag mit Ihnen betrachten möchte, ist nicht nur im Auge meiner Gedanken eingebettet, sondern auch fest im Gewebe meines Herzens verankert. Was in diesem Bild eingekapselt ist, spornt uns an, unseren Weg bei der Umsetzung von Jesu Aufforderung „Folgt mir nach!“ fortzusetzen.
Um welches Bild handelt es sich? Das, das in nur zwei Wörtern sichtbar wird: „Jesus weinte“ (Johannes 11,35; Zürcher Bibel).
Die in diesem kurzen Vers beschriebene Szene offenbart das Herz unseres himmlischen Vaters in der Emotion seines Sohnes, die ewig in seinen Tränen eingerahmt sein wird.
Diese zwei Wörter sagen alles! Ausgelöst wurden Jesu Tränen durch den Tod seines Freundes Lazarus, der mit seinen beiden Schwestern Maria und Marta in Betanien nahe Jerusalem wohnte. Die Geschichte beginnt aber bereits vor Jesu Ankunft am Grab seines Freundes.
Tage zuvor hatten Maria und Marta einen Boten zu Jesus gesandt, der ihm von der ernsthaften Erkrankung seines Freundes berichten sollte: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank“ (Johannes 11,3). Wie reagierte Jesus auf diese Nachricht: „Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde“ (Vers 4).
„Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus“, dennoch wartete er zwei ganze Tage, bevor er nach Betanien kam. Warum? Jesus sagte seinen Jüngern: „Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, ihn aufzuwecken“ (Johannes 11,11). Mit „schläft“ meinte Jesus, dass Lazarus tot war (Vers 14).
Er wartete absichtlich so lange, bis Lazarus gestorben war, nicht etwa aus Angst vor einem Aufenthalt in der Nähe von Jerusalem, wo seine persönliche Sicherheit auf dem Spiel stand. Nein, als der Sohn Gottes konnte er Dinge so sehen, als wären sie bereits Wirklichkeit. Jesus wusste, dass er seinen Freund wieder zum Leben erwecken wird.
Die Zeit war reif
Als der richtige Zeitpunkt gekommen war, sagte Jesus: „Lasst uns zu ihm gehen!“ (Johannes 11,15). Er war zuvor gewarnt worden, sich in Jerusalem oder dessen Umfeld aufzuhalten.
Lazarus zu besuchen schien selbstmörderisch, da die Gegner auf der Lauer lagen. Jesus wusste dies und dass sein eigener Tod bald bevorstand, aber es war noch nicht ganz so weit. Er wusste auch, dass er in Betanien einen Menschen wieder zum Leben erwecken würde und dass er selbst bald von den Toten auferweckt wird, damit alle Menschen das Leben haben können.
Die Auferweckung des Lazarus sollte eine Darstellung der Macht sein, die Jesus über den Tod hatte. Lazarus’ Krankheit war „nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde“ (Johannes 11,4).
Die Zeitplanung war bei Lazarus’ Tod entscheidend, und Jesus war auch hierin perfekt. Er würde sich zum richtigen Zeitpunkt dem Stadtrand Bethaniens nähern und schließlich bei Maria und Marta ankommen, aber erst vier Tage nach dem Tod seines Freundes. In der jüdischen Kultur jener Zeit bedeuteten drei Tage nach dem Eintreten des Todes den endgültigen Schlussstrich für den Toten.
Die durch den Tod herbeigeführte Trennung von Familie und Freunden war scheinbar unüberbrückbar. Umgeben von Trauernden begegnete Jesus völlige Verzweiflung und sogar Abneigung. Die Grenze des Todes ist für Gott, anders als für uns Menschen, jedoch ein Ausgangspunkt.
Als Erstes stellte sich Jesus den beiden Schwestern, die vielleicht den Eindruck hatten, dass er ihre Bitte um Hilfe bewusst ignoriert hatte, als die Familie ihn am dringendsten brauchte. Die stets pflichtbewusste Marta begrüßt Jesus bei seiner Ankunft und stellt mit schmerzhafter Enttäuschung fest: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“ (Johannes 11,21). Dennoch war sie immer noch zuversichtlich, dass Gott ihr helfen würde (Vers 22). Jesus antwortete: „Dein Bruder wird auferstehen“ (Johannes 11,23).
Dann fügte er hinzu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“ (Johannes 11,25-26). Marta erwiderte: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist“ (Johannes 11,27).
Der Bericht wechselt hier zu Martas Schwester Maria, die tief in ihrer Trauer noch zu Hause saß. Selbst innerhalb von Familien reagieren wir unterschiedlich auf Trauerfälle. Marta teilt Maria mit, dass ihr Freund und Lehrer gekommen ist. Maria geht hinaus, um Jesus zu begegnen, und die Trauergemeinde folgt ihr in der Annahme, dass sie zum Grab ihres Bruders möchte (Johannes 11,28-31). Damit wird die Szene eingeleitet, die Jesus zu Tränen bewegen wird.
Zu den Füßen Christi fallend, drückt sich Maria ähnlich wie ihre Schwester aus: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“ (Johannes 11,32). Solche Gedanken können uns auch durch den Kopf gehen, wenn die Dinge nicht nach unseren Vorstellungen laufen. Erlauben Sie mir eine Umschreibung: „Gott, warum hast du mir nicht geholfen? Wo warst du?“
In ihrem sich erweiternden Verständnis des Glaubens sollen Marta und Maria erfahren, dass ihr Freund und Lehrer nicht nur ein lokaler „Retter auf Abruf“ ist, sondern der Sohn Gottes, der über die Dimensionen Zeit und Raum hinausgeht, um uns den Willen Gottes bekannt zu machen.
Manchmal wird er sogar seinen Freunden erlauben, im Hier und Jetzt zu sterben, um das hervorzuheben, was unser himmlischer Vater für alle Ewigkeit will. Aber hier ist Jesus, der Sohn Gottes, auch der Menschensohn – und seine göttliche Fürsorge kommt auf menschliche Weise zum Vorschein gegenüber den Menschen, die er liebt.
„Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt!“
Vor Jesus kniend weinte Maria in ihrer Trauer, ein verständlicher Ausdruck menschlicher Emotion. Wie reagierte Jesus darauf? „Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt“ (Johannes 11,33). Jesus ging diese Begegnung sehr nahe, denn Lazarus war schließlich auch sein Freund.
Er fragte: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ (Johannes 11,34). „Herr, komm und sieh es!“, antworteten die beiden Schwestern. Johannes beschreibt mit nur zwei Wörtern, was als Nächstes passiert: „Jesus weinte“ (Johannes 11,35; Zürcher Bibel).
Dieser kurze Vers ist in unzähligen Predigten und Bibelkommentaren behandelt worden, teils mit sehr unterschiedlicher und tief greifender Interpretation. Wenn man aber genau hinsieht, finden wir die offensichtliche Antwort darauf, warum Jesus geweint hat, im Kontext. Hier ist eine Frau, eine liebe Freundin, die schluchzend vor seinen Füßen zu ihm aufblickt. Ihre Schwester war ebenfalls verzweifelt. Die anderen Trauernden umringen ihn, von Lazarus’ Tod tief bewegt, aber ebenso vom Mitempfinden des Verlusts, den seine Familie durchlebte.
Die Menschen um Jesus in diesem Augenblick sind von seinem Mitgefühl beeindruckt: „Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt!“ (Johannes 11,36).
Aber sie haben es nicht wirklich verstanden. Jesus war nicht traurig über seinen Freund Lazarus, denn er hatte seine Ankunft bei Marta und Maria bewusst verzögert und war nun zu dem Zweck gekommen, Lazarus wieder ins Leben zu rufen. Jesus weinte über die, die trauerten. Er wusste, wie es war, einen geliebten Menschen zu verlieren. Sein Adoptivvater Josef war irgendwann zuvor gestorben und Jesus hätte den Verlust, den andere jetzt erlebten, verstanden und wohl gespürt.
Es kann sein, dass er hier auch über das mangelnde Verständnis der Trauerden vom Tod in Gottes Plan und seinem eigenen Auftrag traurig war. Wenn sie es nur wüssten, wären sie nicht so bestürzt. Es war schmerzhaft für ihn, das zu erleben. Die Leute hätten besser zu dem Schluss kommen sollen: „Seht, wie er seine Freunde liebt, aber auch uns alle!“
Christi Tränen offenbaren uns, dass wir einen Gott anbeten, der sich sehr fürsorglich um seine Schöpfung kümmert. Das Johannesevangelium ist in einfacher Sprache größtenteils an ein hellenistisches Publikum gerichtet und unterscheidet den wahren Gott des Universums vom Pantheon der falschen griechischen Götter. Sie durften nie Empathie und Emotionen zeigen, denn dies hätte dazu geführt, dass sie nicht göttlich waren.
Hier wird unser himmlischer Vater durch seinen Sohn offenbart, den der Vater unter die Menschen gesandt hat, damit sie buchstäblich von Gott berührt werden und Gott, der Vater, wiederum durch Christus vom Menschen berührt wird. Schließlich war Jesus als Mensch Immanuel, was „Gott mit uns“ bedeutet (Matthäus 1,23).
An jenem Tag in Betanien kamen Himmel und Erde für einen Augenblick zusammen, um das Mitgefühl desjenigen zu zeigen, der Mensch und zugleich Gott war. Er konnte von seiner Liebe zu seinen Freunden und anderen, die leiden, überwältigt werden. Und damit kam auch die Liebe des Vaters zum Ausdruck.
Christi Tränen erzählen die ganze Geschichte. Dass Jesus weinte, macht ihn nicht unfehlbar, aber diese Szene, die für immer von seinen Tränen umrahmt sein wird, macht ihn für uns Menschen absolut unverzichtbar. Hier kommt Gottes Liebe zu uns in Menschengestalt zum Vorschein.
Heute haben wir einen Hohepriester, der uns Menschen verstehen kann: „Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebräer 4,15).
Er kann unsere Schmerzen, unsere Sehnsüchte und sogar unsere Verzweiflung über die todbedingte Trennung von Angehörigen begreifen. Im gleichen Sinne ermutigt uns der Apostel Paulus – vielleicht unter Hinweis auf das Vorbild Jesu – „mit den Weinenden“ zu weinen (Römer 12,15). Auch das gehört zu Jesu Aufforderung „Folgt mir nach!“.
„Gott wird abwischen alle Tränen“
Die ultimative Momentaufnahme, die uns die große Hoffnung auf die Ewigkeit offenbart, finden wir in Offenbarung 21, Vers 4: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Diese Worte drücken eine unglaubliche Nähe aus, indem sie Gottes Eingreifen beschreiben, um Tränen wegzuwischen. Christus erlebte dies mit den Trauernden in Betanien, und in der Zukunft wird sich unser himmlischer Vater engagieren, um den Menschen alle Schmerzen und Trauer zu nehmen. Wenn diese Prophezeiung in Erfüllung geht, werden Milliarden von Menschen Christi Aufforderung „Folgt mir nach!“ beherzigt haben. Bleiben wir auf dem Weg mit Gott, damit wir dann auch dabei sind!