Ein altes Wortgefecht um den Standort der früheren Tempel Israels und Judas wird wieder entfacht. Standen der erste und zweite Tempel wirklich auf dem Tempelberg? Was sagen uns die Geschichte und Archäologie dazu?

Von Scott Ashley

Seit einigen Jahren wird bestritten, dass es überhaupt jemals in Jerusalem oder auf dem Tempelberg die in der Bibel erwähnten Tempel der Israeliten gab. Inzwischen macht eine Theorie die Runde, die einräumt, dass es zwar in der Gegend diese Tempel gab, aber eben nicht auf dem Tempelberg. Laut dieser Theorie, deren Wurzeln um Jahrzehnte zurückliegen, standen die biblischen Tempel mehrere hundert Meter weiter südlich, oberhalb der Gihonquelle, aus der die ursprüngliche Wasserzufuhr für das antike Jerusalem kam. Das Areal, das seit 2000 Jahren als Tempelberg gilt, sei vielmehr der Standort der Burg Antonia, die von Herodes dem Großen erbaut und später von den Römern genutzt wurde.

Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass diese Theorie nach unseren Erkenntnissen unter berufsmäßigen westlichen Archäologen überhaupt keine Befürworter findet. Das ist auch nicht verwunderlich, denn diese Lehre beruht auf zweifelhaften Annahmen und steht im Widerspruch zu einer Fülle von biblischen, geschichtswissenschaftlichen und archäologischen Beweisen. Und obwohl die Vertreter dieser Theorie selbst nicht so weit gehen, spielt ihre Lehre denen in die Hände, die die frühere Existenz biblischer Tempel oder auch israelitischer Menschen im Raum Jerusalems insgesamt verleugnen.

Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte Jerusalems wird durch die engen Grenzen erschwert, die archäologischen Grabungen allein schon durch die Umstände gesetzt werden. Denn das Jerusalem von heute ist eine blühende und wachsende Großstadt, deren archäologisches Material unter modernen Häusern, Geschäftsgebäuden, Straßenzügen und Schulen begraben liegt. Da ist es äußerst schwierig, überhaupt Archäologie zu betreiben.

Selbst wenn es die moderne Großstadt über den Ruinen nicht gäbe, müsste man in Kauf nehmen, dass die Stadt im Laufe ihrer langen Geschichte mehrmals zerstört und wiederaufgebaut wurde. Dabei ist die Tatsache von besonderer Bedeutung, dass der von König Salomo erbaute Tempel um 587 v. Chr. von babylonischen Invasoren geschleift und durch eine massive Plattform, auf der später ein neuer Tempel entstand, zugedeckt wurde.

Auch der Tempel, der zu Lebzeiten von Jesus Christus die Szene beherrschte, wurde im Jahre 70 n. Chr. von den Römern zerstört. Jesus hatte selbst vorausgesagt, dass kein Stein auf dem anderen bleiben werde (Matthäus 24,2). Dass er nicht von der Plattform, wie von manchen behauptet, sondern von den Tempelbauten darauf gesprochen hatte, geht eindeutig aus Matthäus 24,1, Markus 13,1-2 und Lukas 21,5 hervor.

Darüber hinaus wird die Archäologie auch noch durch die bis vor Kurzem gängige Praxis erschwert, Bauteile und Bausteine aus alten Gebäuden für Neubauten zu verwenden. Dadurch ist von alten Gebäuden selten viel übrig geblieben.

Trotz dieser erheblichen Hindernisse gibt es in Bezug auf die biblischen Tempel zahlreiche eindeutige archäologische Beweise für die Aussagen von Augenzeugen und von Menschen, die Augenzeugen persönlich kannten. Dieses Material erschöpfend zu behandeln würde aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Deshalb beschränken wir uns nachfolgend auf die wichtigsten Beweise für den Tempelberg als Standort der biblischen Tempel.

Wo standen die Jerusalemer Tempel nach Aussage der Bibel?

Aus der Bibel und der weltlichen Geschichtsschreibung geht eindeutig hervor, dass der Tempel Salomos und der von Serubbabel errichtete Nachfolgebau an derselben Stelle standen (siehe Esra 3,3; 5,15; 6,7). Auch der von Herodes dem Großen ausgebaute Tempel, also der Tempel, der zu Lebzeiten von Jesus existierte, stand an derselben Stelle.

Und wo war diese Stelle? Die Antwort finden wir in 2. Chronik 3, Vers 1: „Und Salomo fing an, das Haus des Herrn zu bauen in Jerusalem auf dem Berge Morija, wo der Herr seinem Vater David erschienen war, an der Stätte, die David auf der Tenne Araunas, des Jebusiters, zubereitet hatte.“ Der Kauf der Tenne Araunas durch König David wird in 1. Chronik 21, Verse 18-25 beschrieben.

Zur besseren Orientierung könnte hier ein Ausflug in die Geografie Jerusalems zweckmäßig sein. Die ummauerte Jebusiterfestung, die David eroberte, dann zu seiner Hauptstadt auswählte und in „Jerusalem“ umbenannte, lag auf einem Bergrücken, der sich von Norden nach Süden in einen Punkt am Boden verjüngte. Im Norden war der Rücken nicht nur am Höchsten, sondern auch breit und fast flach, wenn auch leicht nach oben gewölbt. Im Schutz des dicken Mauerwerks fühlten sich die Verteidiger derart sicher, dass sie die angreifenden Truppen Davids mit dem Hohnspruch verspotteten, dass selbst die Lahmen und Blinden sie abwehren könnten (siehe 2. Samuel 5,6-8).

Die Festung, die nach der Einnahme durch David auch die „Davidsstadt“ genannt wurde, war recht klein und bedeckte eine Fläche von nur 4 ha. Dank steiler Abhänge an der Ost-, West- und Südseite der Höhe war die Stadt so gut wie uneinnehmbar. Archäologische Ausgrabungen in unserer Zeit haben starke Verteidigungstürme freigelegt, welche die Hauptquelle des städtischen Wassers, den Gihonbrunnen, schützten. Dieser Brunnen bewässerte das Kidrontal zwischen dem Bergkamm und dem östlich gelegenen Ölberg.

Der Tempel wurde an der Stelle einer Tenne erbaut

Wir haben bereits gesehen, dass der Tempel an der Stelle einer Tenne errichtet wurde. Was war denn eine Tenne? Eine Tenne war meistens ein freier Boden, auf dem man Weizen und Gerste zermalmte, damit man die Spreu vom Korn trennen konnte. Nach dieser Trennung wurde das Korn gemahlen und zu Brot verarbeitet.

Die Getreidehülsen wurden häufig von Tierhufen (siehe 5. Mose 25,4) oder Dreschschlitten aufgebrochen. Die dadurch entstandene Mischung aus Korn und Spreu wurde mit einer breiten Schaufel geworfelt, das heißt, in die Luft geworfen. Sinn des Ganzen war, dass der Wind die Spreu, die leichter war, verwehte, während das Korn auf den Boden fiel, wo es aufgesammelt werden konnte (siehe hierzu Rut 3,2; Jesaja 41,16; Matthäus 3,12). Weil der Wind beim Worfeln eine wichtige Rolle spielte, legte man Tennen meistens auf Anhöhen oder breiten, offenen Flächen an.

Da der Tempel an der Stelle einer Tenne erbaut wurde, können wir davon ausgehen, dass er sich außerhalb der Davidsstadt befand. Denn innerhalb einer ummauerten Stadt baute man keine Tenne, weil es dort zu wenig Wind gab. Man hätte auch keine Tenne in der Nähe einer Wasserquelle angelegt, weil Wasser mit Spreu vermischt ungenießbar war. Der einzig vernünftige Ort für eine Tenne in der Nähe von Jerusalem war also im Norden.

Wir haben auch eine Aussage der Bibel, dass die Tenne, an deren Stelle der Tempel erbaut wurde, oberhalb der Davidsstadt lag (siehe 2. Samuel 24,18-19). Wenn man die vorhin beschriebene Topografie Jerusalems in Betracht zieht, muss man daher den Schluss ziehen, dass der Tempel nördlich der Davidsstadt stand. Wir erinnern daran, dass die Davidsstadt an allen anderen Seiten von steilen Abhängen umgeben war.

Für die Weihe des fertiggestellten salomonischen Tempels brachten der König und die Ältesten Israels die Bundeslade aus der Davidsstadt zum Tempel „herauf“ (1. Könige 8,1). Damit steht fest, dass der Tempel höher lag als die Stadt Davids. Dieser Sachverhalt wird in diesem Kapitel und auch in der parallelen Erzählung in 2. Chronik 5 insgesamt achtmal festgestellt. Mit anderen Worten: Der Tempel stand auf der Höhe, die seit fast 3000 Jahren als „Tempelberg“ gilt.

Behauptungen in unserer Zeit, dass sich der Tempel innerhalb der Davidsstadt oder gar über der Gihonquelle befand, stehen in krassem Widerspruch zu diesen eindeutigen Aussagen der Bibel. Der Gihonbrunnen liegt sogar über 30 Meter unterhalb der Stadt Davids, in Richtung des Kidrontals.

Jüdische Ritualbäder in der Nähe des Tempelbergs

Die 15 ha große Plattform auf dem Tempelberg gilt seit 2000 Jahren als Fundament des herodianischen Tempels. Man wundert sich, dass gerade diese so lange unbestrittene Zuordnung heute in Frage gestellt wird, aber leider ist es so. Wir wollen deswegen in der Folge einige archäologische Beweise für ihre Richtigkeit bringen.

Einer der schlagkräftigsten Beweise dafür, dass der Tempelberg als heilige Stätte galt, ist die hohe Anzahl an jüdischen Ritualbädern (hebräisch mikwoht), die dort auf Schritt und Tritt gefunden wurden. Bisher hat man über hundert davon identifiziert. Manche sind so klein, dass sie nur einen Menschen auf einmal aufnehmen könnten, andere wiederum so groß, dass darin Platz für hundert Leute vorhanden ist. Das macht es übrigens leichter zu verstehen, wie am Pfingstfest, von dem in Apostelgeschichte 2, Vers 41 die Rede ist, 3000 Menschen an einem Tag getauft werden konnten.

Zur Zeit Jesu Christi war es Sitte, dass sich die Tempelbesucher durch ein Ritualbad vor Eintritt in den Tempelbezirk reinigten. Wie archäologische Funde aus der Zeit beweisen, wurde diese Praxis damals auch vor vielen Synagogen in Israel gepflegt und wird auch anderswo bis heute beibehalten.

Die Archäologin Eilat Mazar, eine Enkelin des berühmten israelischen Altertumsforschers Benjamin Mazar, beschreibt Befunde der Ausgrabungen am Tempelberg, die von ihrem Großvater geführt wurden:

„Überall an der Ausgrabungsstätte fand man Ritualbäder aus der Zeit des Herodes. Wasser wurde von den kolossalen Zisternen am Tempelberg durch Felsrinnen in die Wannen geleitet . . . Jedes Ritualbad hatte einen Eingang mit einem Treppenhaus, in dessen Mitte eine niedrige Mauer die kommenden von den gehenden Besuchern trennte“ (The Complete Guide to the Temple Mount Excavations, 2002, Seite 61).

An den Stellen am Tempelberg, wo Ausgrabungen möglich und gestattet waren, das heißt hauptsächlich an der Süd- und Westseite und auch an einigen Stellen der Nordseite, wurden jüdische Ritualbäder vom ersten vor- und nachchristlichen Jahrhundert gefunden. Nur an der Ostseite hat man keine gefunden, und zwar, weil dort ein großer muslimischer Friedhof liegt und Ausgrabungen verboten sind.

1927 gab es in Jerusalem ein Erdbeben, das die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg beschädigte. Kurz danach fand der britische Archäologe Robert Hamilton ein solches Ritualbad unter dem Boden der Moschee. Sein Bericht darüber wurde fast ein Jahrhundert lang unter Verschluss gehalten, weil man davon ausging, dass die Veröffentlichung eines solchen Beweises für frühzeitliche israelitische Anbetung auf dem Tempelberg in der islamischen Welt Ärger stiften könnte.

Wenn diese Stelle aber der Standort für die Burg Antonia gewesen sein soll, wie heute von manchen behauptet wird, dann fragt man sich, warum es gerade dort so viele Ritualbäder gegeben hat. Die Burg Antonia war doch eine militärische Festung! Nein, diese Bäder sind ein starker Hinweis darauf, dass der Tempelberg ein Ort war, wo Gottesdienste abgehalten wurden.

In der Gegend oberhalb der Gihonquelle, die von manchen als Standort des Tempels gesehen wird, findet man weder Hinweise auf Ritualbäder noch auf irgendwelche anderen Gegenstände, die mit der Anbetung Gottes in Zusammenhang gebracht werden könnten.

Die Berichte des Josephus

Flavius Josephus (ca. 37 bis 100 n. Chr.) war ein jüdischer Schriftsteller und Priester des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, der mit Jerusalem und seinem Tempel sowie mit dem Krieg vertraut war, in dessen Verlauf sowohl die Stadt als auch der Tempel von den Römern zerstört wurden. In seinen Aufzeichnungen finden wir viele Beschreibungen des Tempels, die mit archäologischen Funden am Tempelberg übereinstimmen. Wir wollen hier auf einige kurz eingehen. Nach Josephus war der äußere Hof der Tempelanlage, der so genannte „Hof der Heiden“ (zu dem Nichtjuden Zutritt hatten), von einer Steinmauer umgeben, auf der eine Inschrift stand, die jedem Ausländer unter Androhung der Todesstrafe den Zutritt zum inneren Hof verbot (siehe Jüdische Altertümer, Buch 15, Kapitel 11, Abschnitt 5).

Zwei Steinbrocken mit einer solchen Inschrift sind von Archäologen gefunden worden. Der eine ist vollständig erhalten, dem anderen fehlen die Enden. Das vollständige Stück wurde 1871 ungefähr 50 Meter vom Tempelberg entfernt gefunden, das andere trat im Jahr 1935 zu Tage, etwa 70 Meter nördlich der Nordostecke der Tempelbergplattform. In beiden Fällen hatten die Steinbrocken als Teil anderer Bauten Verwendung gefunden, ein Hinweis auf die weitverbreitete Vorgehensweise, die wir bereits erwähnt haben. Die griechische Inschrift auf dem vollständigen Stück bestätigt die Aussage des Josephus und lautet: „Ausländern ist der Zutritt durch die Balustrade zum Vorhof des Heiligtums verboten. Wer bei Verletzung dieses Verbotes ertappt wird, trägt selbst die Verantwortung für seinen Tod.“

Josephus erwähnt einen Teil der Tempelanlage, wo ein Priester mit Posaunenblasen die Ankunft und den Abgang des siebten Wochentages verkündete (Der jüdische Krieg, Buch 4, Kapitel 9, Abschnitt 12). Man kann annehmen, dass der Priester an einer Stelle stand, von der aus sein Signal in einem Großteil der Stadt wahrzunehmen war.

1968 fand der an der Hebräischen Universität tätige Archäologe Benjamin Mazar einen großen, geschnitzten Stein in den Trümmern der Tempelanlage an der Südwestecke der Tempelbergplattform, einer Stelle, von der aus man im ersten Jahrhundert einen Großteil der Stadt überblicken konnte. Dieser Stein lag unter dem Schutt am Rande der Tempelanlage. Man darf daher vermuten, dass er sich ursprünglich an der höchsten Stelle der Außengebäude befunden hatte.

Dieser Stein passte genau zu einem größeren Gesteinsbrocken, in dem sich eine Nische befand, in der ein Mann hätte bequem stehen können. Auf dem kleineren Stein war in schöner hebräischer Schrift zu lesen: „Dem Posaunenplatz zur Verkündung . . .“ Die Experten vermuten, dass die vollständige Inschrift folgenden Wortlaut hatte: „Dem Posaunenplatz zur Verkündung des Sabbats“. Der Zusammenhang mit der Aussage des Josephus ist offensichtlich.

Josephus zufolge hatte die Mauer an der westlichen Seite der Tempelplattform vier Eingänge. Der eine war durch eine Brücke über das „Tal der Käsehersteller“ mit der wohlhabenden Oberstadt Jerusalems verbunden. Zwei Eingänge führten direkt in die restliche Stadt und der vierte war mit einer langen Treppe versehen, die in das Tal führte (Jüdische Altertümer, Buch 15, Kapitel 11, Abschnitt 5).

Heute kann man Überreste dieser Eingänge zum Tempelberg in der Westmauer erkennen. Trotz ihrer Schäden stimmen sie mit der Beschreibung des Josephus überein. Die Überreste der Brücke über das Tal der Käsehersteller heißen heute „Wilson-Bogen“, nach dem berühmten Archäologen Charles Wilson. Zwei der Eingänge sind nach anderen Altertumsforschern genannt: Barclay-Tor und Warren-Tor. Dann gibt es noch den Robinson-Bogen, der offensichtlich Teil einer langen Treppe vom Tempelberg ins Tal war.

An der Südseite der Plattform gab es nach Josephus eine Säulenhalle, die ihresgleichen unter der Sonne suchte. Die von Benjamin Mazar geführten Ausgrabungen von 1968 bis 1978 bestätigen auch diese Aussage des Josephus:

„Unter dem Schutt entlang der ganzen Länge der Südmauer fand man zahlreiche Fragmente solcher Pilaster [flach aus der Wand hervortretender Pfeiler] und ihrer Kapitelle, Brocken von zwei Sonnenuhren, sowie Stücke von Friesen, Wandtafeln und Zierleisten . . . Manche dieser Gesteinsbrocken waren von der Mauerkrone und andere von der königlichen Pforte [einer lang gestreckten Säulenkette auf der Mauer] gefallen. Auf diesen Brocken und Fragmenten findet man eine Fülle an geometrischen und blumenartigen Mustern, die der Kunstwelt der herodianischen Zeit entsprechen“ (The Mountain of the Lord: Excavating in Jerusalem, 1975, Seite 121-124).

Nach Josephus hatte auch die Südmauer Tore in ihrer Mitte. Heute kann man genau dort ein Zweifachtor und ein Dreifachtor besichtigen. (Josephus erwähnt noch ein großes Tor an der Ostseite. Aber weder dort noch an der Nordseite sind Grabungen durchgeführt worden, weil die entsprechenden Stellen unter einem muslimischen Friedhof im islamischen Teil der Stadt liegen.)

Seit der Tempelberg unter muslimischer Verwaltung steht, sind archäologische Ausgrabungen dort verboten. Außerdem gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass die islamischen Behörden Fundstücke aus dem Altertum vernichten, vermutlich um Beweise für eine einstige israelitische Präsenz auszulöschen. Es ist also nicht anzunehmen, dass in absehbarer Zeit weiteres Beweismaterial für den Standort des Tempels zu Tage treten wird.

Der Tempel kann nicht über der Gihonquelle gestanden haben

Manche behaupten, dass im ersten Jahrhundert n. Chr. der Jerusalemer Tempel auf dem Bergrücken oberhalb der Gihonquelle stand. Wir wollen der Frage mal nachgehen, ob das glaubwürdig ist. Ronny Reich, Professor an der Universität Haifa, der für seine Beiträge zur Archäologie mehrmals geehrt wurde, leitete von 1995 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2011 Ausgrabungen rund um die Gihonquelle, auch an den steilen Abhängen des Bergkamms, auf dem die Davidsstadt lag. Das meiste, was uns über diese Gegend bekannt ist, geht auf seine Arbeit zurück.

Was hat er also in dieser Gegend gefunden, in der nach Auffassung mancher die Jerusalemer Tempel standen? In seinem 2011 veröffentlichten Buch Excavating the City of David: Where Jerusalem’s History Began beschreibt Reich die Oberschicht, durch die seine Mitarbeiter graben mussten: „Acht bis neun Meter Erde, Kieselsteine, Tonscherben und Fragmente aller Art, alles über die östlichen Abhänge der Davidsstadt geschüttet . . .“ Er erwähnt nebenbei, dass seine Kollegen ähnliche Schichten an anderen Stellen in der Umgebung gefunden hatten.

Was waren diese Schichten? Es handelte sich um Hunderttausende Kubikmeter Schutt. Irgendwann dämmerte jemandem, dass man es hier mit der städtischen Müllhalde von der Zeit nach der Zerstörung des Tempels des Herodes zu tun hatte! Die Gegend um die Gihonquelle war also nicht der Standort des herrlichen herodianischen Tempels, wo Jesus verkehrte und lehrte.

In tieferen Schichten in dieser Gegend, die dem Zeitalter des salomonischen Tempels entsprachen, fand man landwirtschaftliche Terrassen, bestückt mit Olivenbäumen, wie man sie auch heute im Umfeld Jerusalems sieht. Auch das widerspricht der Vermutung, dass hier der Tempel gestanden hat. Trotz zahlreicher Ausgrabungen in der Nähe der Gihonquelle und seit 1867 auch an mindestens acht Stellen in der Davidsstadt, wo der Standort des Tempels ausdrücklich vermutet wurde, hat man bisher keinerlei Anzeichen dafür gefunden, dass hier irgendwo der Tempel gestanden hat.

Es gibt also überhaupt keine Beweise dafür, dass der Tempel in der Umgebung oder oberhalb der Gihonquelle gestanden hat. Vielmehr beweisen die gründlichen Ausgrabungen in der Gegend, dass die biblischen Tempel dort nicht gestanden haben können.

Als wären die Beweise aus der Archäologie nicht schon genug, so wissen wir von Josephus und der Mischna, einer Aufzeichnung jüdischer Traditionen, die im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert niedergelegt wurde und ähnlich den Schriften des Josephus detaillierte Beschreibungen des Tempels enthält, dass die Tempelplattform eine Seitenlänge zwischen 500 und 600 Ellen hatte. Je nach Elle bedeutet das eine Seitenlänge zwischen 300 und 600 Metern.

Das ist größer als das ganze Plateau, auf dem die Davidsstadt stand. Der Tempel kann also unmöglich innerhalb der Davidsstadt gestanden haben. Man bedenke, dass die Davidsstadt an drei Seiten von abschüssigen Abhängen umgeben war. Am westlichen Abhang hat man übrigens eine Straße aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gefunden. Es ist kaum anzunehmen, das sie unter dem Tempelareal gelegen haben sollte.

Wenn der Tempelplatz direkt über der Gihonquelle gestanden haben sollte, dann hätte er wegen seiner Größe das ganze Kidrontal blockiert. Für eine solche Blockade gibt es aber gar keine Beweise.

Aus der Archäologie wissen wir, dass diese Gegenden jahrhundertelang besiedelt waren. Hätte der Tempel in der Davidsstadt oder über der Gihonquelle gestanden, wäre das unmöglich gewesen.

Der Tempelberg war nicht der Standort der Burg Antonia

Die Befürworter der Theorie, dass der Tempel in der Davidsstadt oberhalb der Gihonquelle stand, sehen in der Plattform, die seit eh und je mit dem Tempel in Zusammenhang gebracht wird, den Standort der Burg Antonia. Herodes der Große baute die Burg Antonia und nannte sie nach seinem Freund, Markus Antonius, der ein General im Dienst des Julius Caesar war.

Ist nun diese Vermutung über die Verwendung der Plattform glaubwürdig? Nach Josephus stand die Burg Antonia an der Nordwestecke der Tempelplattform. In seiner Geschichte der jüdischen Kriege schreibt er:

„Was nun die Antonia betrifft, so lag dieselbe in dem Winkel, den zwei der Hallen des äußeren Tempelraumes, die westliche und die nördliche, miteinander bildeten“ (Buch 5, Kapitel 5, Abschnitt 8). Weiter erwähnt er „die nordwestliche Tempelhalle an der Stelle, wo sie mit der Antonia zusammenhing“ (Buch 6, Kapitel 2, Abschnitt 9, beide Übersetzungen von Heinrich Clementz).

Ein Problem für die Verfechter dieser Antonia-Theorie ist nun die Tatsache, dass die Gihonquelle von der Tempelbergplattform in südlicher Richtung 300 m entfernt und mit ihr in keiner Weise verbunden ist. Sie argumentieren daher, dass eine 200 m lange Fußbrücke die beiden Stellen miteinander verband. Für eine solche Brücke gibt es aber nicht den geringsten Beweis, weder in der Geschichtsschreibung noch in der Archäologie.

Josephus erwähnt die Burg Antonia 55 Mal. Vierundvierzig Mal nennt er sie „den Turm Antonia“. Die Tempelbergplattform ist eine Ebene, die sich über eine Fläche von 15 ha erstreckt. Dass man ein Bauwerk, das eine so große Ebene bedeckt, einen Turm nennt, ist äußerst unwahrscheinlich.

Gegen die Identifizierung der Tempelbergplattform mit der Burg Antonia sprechen auch die vielen Tore, Eingänge, Brücken und Treppen, die Zugang zum Platz verschaffen. Es sind uns mindestens zehn Eingänge bekannt. Bei einer Burg will man aber doch den Zugang möglichst erschweren. Es ist schwer vorstellbar, dass irgendjemand ein Befestigungswerk mit zehn Eingängen versieht!

Von einigen Eingängen in der Südmauer führten lange Korridore zu Ausgängen oben auf der Plattform in der Nähe des Tempels. Ehe vor einigen Jahren diese Korridore für Nicht-Muslime gesperrt wurden, konnte man Fotos und Architektenzeichnungen betrachten, die einem einen Eindruck davon vermitteln sollten, wie diese Gänge im Altertum ausgesehen hatten. Sie waren demnach mit schönen Säulen und Kuppeln versehen, in die Darstellungen von Weinstöcken und geometrischen Figuren eingeritzt waren. Nach jüdischer Praxis verbotene Darstellungen von Menschen und Tieren gab es aber nicht.

Kann man sich vorstellen, dass man eine militärische Festung mit solch kostbaren Kunsterzeugnissen geschmückt hätte? Passen nicht solche Verschönerungen eher zu einem Gotteshaus? Auf jeden Fall zeugen zeitgenössische Berichte und Beschreibungen von der Schönheit des Tempels und seiner Anlagen. Außerdem hat man im Schutt am Tempelberg zahlreiche steinerne Brocken von Kunstgegenständen gefunden.

Gegen die Antonia-Theorie spricht auch die Datierung der Plattform. Unweit der Südwestecke des Tempelberges hat man im Jahre 2011 Münzen unter der Westmauer gefunden, die um 17 bis 18 n. Chr. in Umlauf waren. Herodes, der über zwanzig Jahre vor dieser Zeit gestorben ist, hat die Burg Antonia lange vor seinem Tod fertiggestellt. Die Westmauer am Tempelberg kann also kein Teil der Burg Antonia gewesen sein. Demgegenüber war noch ein Jahrzehnt nach dem Datum dieser Münzen der Tempel immer noch im Bau:

„Die Juden nun antworteten und sprachen zu ihm: Was für ein Zeichen [der Vollmacht] zeigst du uns, dass du dies tust? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten. Da sprachen die Juden: 46 Jahre ist an diesem Tempel gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“ (Johannes 2,18-20; Elberfelder Bibel; Hervorhebung durch uns).

Der Sachverhalt steht fest

Aus dem Vorhergehenden dürfte klar belegt worden sein, dass die Tempel Salomos und des Herodes genau dort standen, wo man sie seit 2000 Jahren vermutet hat, nämlich auf dem Tempelberg. Die Zeugnisse der Geschichtsschreibung, Überlieferung und Archäologie stimmen darin überein.

Der herausragende Fachmann, wenn es um die Architektur und Archäologie des Tempelberges geht, dürfte Leen Ritmeyer sein. Leen Ritmeyer hat an mehreren groß angelegten archäologischen Ausgrabungen in und um Jerusalem teilgenommen und seine Zeichnungen schmücken viele einschlägige Bücher, Atlanten und Fachzeitschriften.

Wir haben mit ihm ein Gespräch geführt, das Sie auf unserer Website www.gutenachrichten.org abrufen können. Geben Sie dafür bitte als Suchbegriff einfach „Ritmeyer“ ein. Ein Besuch auf seiner Website, www. ritmeyer.com, wo er sich regelmäßig zu archäologischen Funden aus der Zeit der Bibel äußert, dürfte sich ebenfalls lohnen.